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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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nicht so frieren ließen wie die Kinder in Prirechnij, sondern sie auf die Straße lockten, wo sie Schneemänner bauten und sich mit Schneebällen bewarfen und lachten.
    Es muss eine Geschichte aus der DDR gewesen sein, wird Ekaterina nun auf einmal klar. Eine regimekonforme Geschichte ohne jede Anspielung auf ein religiöses Fest wie Weihnachten, perfekt für die Bibliotheken der Sowjetunion. Aber als Kind hatte sie sich darüber keine Gedanken gemacht. Die Vorstellung von einem Land mit so schönen Häusern und so glücklichen, in warmem Watteschnee herumtollenden Kindern, hatte ihre Sehnsucht beflügelt, möglicherweise hatte sie ihr als junge Frau sogar den Mut gegeben, ihre Heimat zu verlassen.
    Hier muss es sein, das Namensschild stimmt. Ekaterina setzt ihre Pelzmütze ab und fährt sich mit der freien Hand glättend durch ihr kurzes Haar, bevor sie auf die Klingel drückt, schnell und energisch, damit sie es sich nicht doch noch anders überlegen kann.
    Nora Weiß ist eine schöne, groß gewachsene Frau, die sich sehr aufrecht hält und doch so wirkt, als könne sie jeden Moment in sich zusammenfallen. Sie führt Ekaterina durch einen Flur mit sehr hohen Decken. Die wenigen Möbelstücke sind geschmackvoll und sicher sehr teuer, das Licht ist dezent. Trotz ihrer hochhackigen violetten Stiefel fühlt Ekaterina sich auf einmal sehr winzig und fehl am Platz. Nie hätte sie sich als Kind träumen lassen, dass es in einem der Bilderbuchhäuser so aussehen könnte.
    »Tee?«
    »Danke, gern.«
    Auch die Küche und der Küchentisch sind riesig. Ekaterina setzt sich und legt die Hände um ihre Tasse. Nora Weiß nimmt ihr gegenüber Platz und ihre Trauer senkt sich zwischen sie, lähmend und raumergreifend, wie ein ungebetener Gast.
    »Was war Ihr Mann für ein Mensch?«, fragt Ekaterina, als sie begreift, dass die andere Frau nicht von sich aus sprechen wird.
    »Was für ein Mensch?« Die Augenärztin runzelt die Stirn. »Das ist aber keine medizinische Frage.«
    »Ich muss das trotzdem wissen. Sie haben gesagt, Ihr Mann war nicht depressiv und von seinem Körperbau her schließe ich, dass er recht sportlich war.«
    »Jens hat Squash gespielt und regelmäßig im Fitnessstudio trainiert.«
    »Er war also reaktionsschnell.«
    »Ja, absolut.«
    »War er glücklich?«
    »Jens war Optimist. Immer. Auch deshalb habe ich ihn geliebt.«
    Und trotzdem hat er nicht um sein Leben gekämpft.
    »Nahm er Medikamente? Gab es irgendeine körperliche Beeinträchtigung?«
    »Nein, nein.«
    »Operationen? Unfälle?«
    »Nein.«
    Wieder lastet das Schweigen zwischen ihnen und das gelegentliche Flackern des Teelichts im Stövchen ist die einzige Bewegung, beide starren sie es an.
    Sag etwas, frag etwas oder verabschiede dich. Doch statt ihren stummen Rat zu befolgen, bleibt Ekaterina regungslos sitzen, so wie ihre Großmutter es früher tat, wenn sie ein Geheimnis ergründen wollte. Eine Minute, zwei Minuten, länger, immer länger, und das Schweigen breitet sich aus und wiegt nicht mehr so schwer und dann wird es zu Ruhe und nach einer Weile beginnt Nora Weiß sich zu entspannen, und aus dem Schweigen erwächst eine Vorahnung. Eine Vorahnung, die Ekaterina aufblicken lässt, und auch Nora Weiß hebt den Kopf.
    »Das ist sicher völlig irrelevant für Sie.«
    »Vielleicht auch nicht.«
    »Jens hat sich sterilisieren lassen. Zwei Jahre nach der Geburt unserer jüngeren Tochter.«
    Sie driftet, schwebt. Körperlos. Schwerelos. Im Wasser, im Himmel, sie kann das nicht sagen und es ist auch egal. Es soll nur immer so weitergehen. Die Toten sind weg und trotzdem noch da. Anders jedoch. Unsichtbar. Die meisten Leute wollen das nur nicht sehen. Denken sich vor lauter Angst alberne Geschichten von einem Rauschebartgott aus, der sie eines Tages in den Himmel abberufen wird, wenn sie nur gut genug sind und ganz fest daran glauben. Plock, plock, plock. Ein Geräusch dringt in ihren Schwebezustand, eine Art unregelmäßiges Klopfen. Sie öffnet die Augen. Dunkelheit. Ihr Kopf ist wie Watte. Nur allmählich erkennt sie die Konturen des Tischs mit dem Totenschädel. Also ist sie bei Fabian, in seinem Zimmer, nach dem Riesenkrach mit ihrer Mutter hat sie bei ihm übernachtet, jetzt fällt ihr das wieder ein. Sie waren im Club, haben lange geschlafen und zum Frühstück haben sie sich den Bauch mit Ravioli vollgeschlagen und Bier getrunken. Danach ist sie doch noch mal heimgefahren, um Penti zu füttern und ein paar Sachen zu holen.
    Und dann, was war

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