Farben der Schuld
überreizten Magen und gibt wieder Gas. Sie sind immer noch ganz am Anfang. Es wird weitere Tote geben. Er kann förmlich riechen, dass es so ist. Doch das allein erklärt nicht dieses ungute Grollen in seinem Magen.
***
Johlen, Pfeifen, Beifallklatschen – die Eröffnung, dass der Priester Georg Röttgen sich sterilisieren ließ, hat die Kollegen elektrisiert. Ein Priester auf Abwegen! Hoch motiviert sind sie nach dem Morgenmeeting ausgeschwärmt. Fühlt der Kirche auf den Zahn. Findet den Arzt, der den Priester operierte, schafft mir endlich brauchbare Zeugen bei, hat Holger Kühn befohlen.
Bis das Gegenteil feststeht, gehen wir nicht von Serienmord aus. Kein Wort an die Presse davon und erst recht nicht zum Tathergang.
Judith schaltet ihren Computer an. Irgendetwas klingt in ihr nach, irgendetwas, das ihr seit Ekaterina Petrowas Demonstration im Obduktionskeller durch den Kopf ging, aber sosehr sie auch grübelt, sie bekommt nicht zu fassen, was das ist. Sie starrt auf den Monitor, öffnet das Textverarbeitungsprogramm. Eine halbe Stunde vor seiner Ermordung hat der Priester Georg Röttgen einen Anruf erhalten, haben die Kriminaltechniker in der Morgenbesprechung berichtet. Das Gespräch dauerte eine Minute und 47 Sekunden und kam von einer öffentlichen Telefonzelle am Hauptbahnhof. Von dort braucht man zu Fuß bis zum Tatort maximal zehn Minuten, der Anrufer dürfte also mit großer Wahrscheinlichkeit der Täter gewesen sein. Doch seine Identität ist wohl kaum noch zu ermitteln, und auf den Telefonanschlüssen von Jens Weiß ist kein vergleichbarer Anruf registriert. In der Nacht, in der er starb, hatte er nicht einmal sein Handy dabei.
Judith steht auf, setzt sich gleich wieder hin. Ihr Büro ist zu eng und der Schreibtischjob macht sie nervös, das Gefühl, etwas Entscheidendes zu wissen und doch nicht greifen zu können. Sie braucht eine Zigarette. Ihr Plan aufzuhören, ist grandios gescheitert, längst hat die Sucht sie wieder im Griff. Komm schon, beherrsch dich, bleib bei der Sache. Sie schlägt den Bericht der Kriminaltechnik auf: Die beiden Opfer hatten weder per E-Mail noch telefonisch Kontakt miteinander, keine der untersuchten Rufnummern oder Mails verweist auf gemeinsame Bekannte. In ihren Computern gibt es auch keine E-Mails von potenziellen oder ehemaligen Geliebten, keine Informationen zur Sterilisation, keine Drohbriefe, keine Hinweise auf kriminelle Aktivitäten. Jens Weiß hat privat regelmäßig mit seiner Familie und Freunden korrespondiert und im Internet Nachrichten gelesen und medizinische Lexika benutzt. Georg Röttgen benutzte seinen PC offenbar nur für seine Arbeit. Er hat seine Predigten sorgfältig archiviert und war im Internet fast ausschließlich auf Musik-und Kirchenseiten unterwegs.
Judith schlägt den Bericht wieder zu. Das Passwort von Röttgen ist interessant: ›SPantaleon‹. Warum hat er es gewählt, wenn er dort niemals Priester war? Ist ›SPantaleon‹ ein Deckname für eine Frau, die es in seinem Leben nach aller Wahrscheinlichkeit gegeben hat, ist es ein Hinweis auf ihre Identität oder auf den gemeinsamen Treffpunkt? Hat auch Jens Weiß diese Frau bei der Kirche gesucht?
Sie bekommt kein Gefühl für diesen Fall, ihr Instinkt, auf den sie sich sonst verlassen konnte, funktioniert nicht, es ist, als ob sie etwas sieht und doch nicht sieht. Sie hatte gehofft, das Trauma im Griff zu haben. Der Tag gestern war gut, der Abend mit Karl Hofer noch besser. Nachdem sie ihm von dem Haus erzählt hatte, hat sie sich zum ersten Mal wieder frei gefühlt, doch jetzt sind plötzlich die Zweifel wieder da und die Angst. Vielleicht war es ein Fehler, so früh wieder zu arbeiten, vielleicht taugt sie nicht mehr zur Polizistin. Sie beginnt zu tippen, mühsam, die Schmerzen in ihrer linken Hand ignorierend. Kurz vor seiner Ermordung, um 23.36 Uhr, erhielt Georg Röttgen einen Anruf. Er hat seine Wohnung danach überstürzt verlassen. Warum hat er das getan, obwohl er von dem mitternächtlichen Mord vor der Kirche Sankt Pantaleon wusste? Es kann nur einen Grund dafür geben: Er hat seinen Mörder gekannt und ihn als harmlos angesehen. Vielleicht ist der Täter also tatsächlich seine Geliebte. Zumindest aber ist er ein Mensch, dem Georg Röttgen vertraute.
Judith lehnt sich zurück und starrt auf die Fensterscheiben, an denen der Regen graue Schmutzschlieren zieht. Hartmut Warnholz ist Röttgens Freund und Mentor und der Supervisor der Telefonseelsorge. Mit ihm hat er
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