Farben der Schuld
nachweislich am häufigsten telefoniert. Die beiden sind Weggefährten, lieben beide Musik. Es gibt ein Foto, das sie zusammen vor Sankt Pantaleon zeigt. Was folgt daraus, ist Hartmut Warnholz verdächtig? Oder ist er selbst in Gefahr? Sie steht auf, tritt ans Fenster. Die morgendliche Konferenz wäre der richtige Zeitpunkt gewesen zu offenbaren, dass sie den Polizeiseelsorger bereits kennt und auch weiterhin in privater Sache treffen will. Aber sie hat geschwiegen. Warum? Sie weiß es nicht. Nein, das ist nicht korrekt. Sie hat geschwiegen, weil sie ihre Seelenlage nicht offenbaren will. Und weil sie überzeugt ist, dass sie eher etwas von Warnholz erfahren wird, wenn sie ihm nicht als Ermittlerin der Soko Priester begegnet.
Sie steht auf und presst die Stirn an die Fensterscheibe. Warum wird jemand Priester? Weil er den Lebenssinn sucht, weil Gott ihn ruft, wie es die Website des Priesterseminars suggeriert? Oder weil er sich einem Leben mit echten Beziehungen nicht gewachsen fühlt? Ihre lange vergangene Konfirmandenfreizeit im Schwarzwald fällt ihr ein. Die Stille des Tagungshauses in der Mittagssonne, das Summen der Bienen in den blühenden Obstbäumen, die abendlichen Diskussionen mit dem Pfarrer über den Sinn und die Schöpfung. Manchmal in dieser Zeit erschien es sehr leicht, an Gott zu glauben. Aber bald darauf traten andere Dinge in den Vordergrund. Ein weiterer Umzug. Der Sommer mit Erri und damit verbunden ein neuer, erwachsener Blick auf die Welt und die Erkenntnis, wie viel Unrecht es gibt.
Judith beugt sich über den Schreibtisch und blättert in den Unterlagen. In Röttgens Biographie gibt es scheinbar keine Lücken, keine Ausreißer, kein weltliches Vorleben, kein Hadern mit Gottes Willen und Werk. Röttgen hat das Abitur an einem katholischen Knabengymnasium abgelegt und dann sofort Theologie studiert. Völlig geradlinig führte sein Lebensweg direkt zur Priesterweihe. Und doch muss es einen Punkt in seinem Leben gegeben haben, an dem er an den Anforderungen seiner Kirche zweifelte, vielleicht sogar an seinem Gott, und diese Zweifel müssen dazu geführt haben, dass er die Regeln verletzte.
Fleischeslust. Das Wort ist altbacken, abstoßend, unangemessen. Nichtsdestotrotz muss sie unwillkürlich an Karl Hofer denken. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen, sie fühlt sich wohl mit ihm. Es wäre ein Leichtes gewesen, nach dem Abendessen noch weiterzugehen. Seit dem brutalen Ende mit David ist sie allein gewesen. Sie war nicht bereit, nochmals zu vertrauen. Und jetzt ist die Sehnsucht wieder erwacht, diese Sehnsucht, die so verdammt verletzlich macht. Liebe. Verlangen. Der Wunsch, geborgen zu sein. Der Wunsch nach Berührung. Ist das vergleichbar mit den Gefühlen eines katholischen Priesters, der gelobt hat, enthaltsam zu leben und dann nicht fähig war, diesen Schwur zu halten? Hat ihn jemand dafür bestraft?
Ein scharfer Luftzug. Ein Geräusch. Eine Tür. Ihr Herz beginnt zu rasen, ihre Hände zittern. Das Haus, dieses verdammte Haus. Übergangslos, ohne Vorwarnung, ist sie wieder dort drin, hilflos, bewegungslos, riecht das Benzin.
Mühsam richtet sie sich auf und erkennt Holger Kühn.
»Siehst du Gespenster?« Er lehnt im Türrahmen und mustert sie.
»Ich hab dich gar nicht gehört.« Ihr Mund ist trocken, ihre Knie drohen nachzugeben. Reiß dich zusammen. Nicht jetzt. Nicht hier.
»Ist dir nicht gut?«
»Alles okay, ich war nur in Gedanken.« Sie spürt den Schmerz in der linken Hand, umfasst die Stuhllehne fester.
»Du siehst gar nicht gut aus.« Der Leiter der Soko Priester lässt sie nicht aus den Augen. »Ist ganz schön übel, wenn man getötet hat, nicht wahr? Wenn man sich ständig fragt, ob man das nicht hätte verhindern können.« Er grinst. »Manche Kollegen zerbrechen daran.«
»Was willst du, Holger?« Er hat sie getroffen. Er weiß das, sie weiß das. Ein Punkt für ihn. Noch einer. Wieder.
Er räuspert sich. »Die jüngere Tochter der Weiß kommt heute Nacht aus Australien zurück. Fahr morgen früh dort vorbei und horch sie ein bisschen aus.«
Die Tochter, die Töchter. Jens Weiß ließ sich sterilisieren, weil er nicht noch weitere Kinder zeugen wollte. Sie nickt mechanisch, weil es auf einmal so einfach erscheint, so klar. Das eine Detail, nach dem sie den ganzen Morgen gesucht hat, womöglich sogar die Gemeinsamkeit der beiden Opfer.
Sie zählt sehr langsam bis zehn, nachdem Kühn ihr Büro verlassen hat. Erst als sie sicher ist, dass er tatsächlich verschwunden
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