Farben der Schuld
ohne die Make-up-Schicht seltsam nackt und Undefiniert, fast so, als sei es in Auflösung begriffen. Wieso ist sie eigentlich zu Hause? Müsste sie am Sonntagmorgen nicht in der Kirche sein?
Sie bemerkt seinen Blick und verschränkt die Arme vor der Brust. Auf ihren Wangen bilden sich hektische rote Flecken.
»Entschuldigung, ich habe gerade Gymnastik gemacht.« Sie stößt einen Laut aus, der wohl ein Lachen sein soll, jedoch eher wie ein Schluchzen klingt. Im Wohnzimmer steht tatsächlich ein Stepp-Trainer. Von irgendwo nimmt Manni jetzt den leicht säuerlichen Geruch von Erbrochenem wahr.
»Ihre Tochter ist in ihrem Zimmer?«
Er wartet die Antwort nicht ab, geht zu der Tür am Ende des Flurs.
Ruth Sollner klebt ihm auf den Fersen und plappert. Atemlos. Ohne Pause, ohne Sinn. Wie seine Mutter, wenn sie was verbergen will.
»Die Jugendlichen und ihre Partys … nächtelang feiern und dann den ganzen Tag verschlafen … das kann schon mal ein bisschen eskalieren … nun ja, so ist das wohl, wir waren ja alle mal jung …«
Er öffnet die Tür zu Beatrice Sollners Gruftirefugium und prallt fast zurück, weil es so stinkt. Erbrochenes. Alkohol. Kalter Rauch und irgendwas Süßlich-Künstliches umnebeln ihn, obwohl das Fenster geöffnet ist. Den beiden Bewohnern des Zimmers jedoch scheint das nichts auszumachen. Sie schlafen. Das grün schimmernde Chamäleon auf einem Ast in seinem Glaskasten, seine Besitzerin auf ihrem Matratzenlager. Ein Plastikeimer und nasse, dunkle Flecken auf dem Teppich weisen klar auf die Ursache des Kotzgeruchs hin. Eine Flasche Teppichreiniger steht neben dem Eimer. Es dürfte wohl die Mutter gewesen sein, die versucht hat, das Erbrochene zu beseitigen, denn das Fräulein Tochter wirkt, als ob es völlig hinüber wäre.
»Beatrice hat sich wohl einen Virus eingefangen.«
Ruth Sollner sprüht hektisch ein Raumluftspray um sich. Eine Wolke synthetisches Kokosaroma stülpt sich über Manni. Er hustet, bekämpft das Bedürfnis, in den Eimer zu kotzen.
»So ist es schon besser, nicht wahr?«, plappert Ruth Sollner.
Blindwütige Mutterliebe. Die Entschlossenheit, auch noch die größte Scheiße zu beschönigen, wenn es dem Bild der heilen Familie dient. Das ist auch eine ganz spezielle Form der Hölle, die er aus eigener Erfahrung kennt. Es fühlt sich an, als klebe man in einem gigantischen Gespinst aus Zuckerwatte fest.
Er geht in die Hocke und rüttelt an der Schulter des Mädchens. Sie hatte offenbar keine Kraft mehr sich auszuziehen, liegt in voller schwarzer Punkmontur im Bett, nur ihre Stiefel stehen am Fußende der Matratze.
»Beatrice Sollner? Mein Name ist Manfred Korzilius. Ich bin Kriminalkommissar. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Das Mädel grunzt, aber ihre Lider flattern nicht mal. Ihr Gesicht wirkt aufgedunsen, die schwarze Schminke ist grotesk verschmiert, an den kahlrasierten Schläfen schimmern die Haarstoppel wie talgige Mitesser.
»Beatrice? Hallo? Hören Sie mich?«
Nichts, gar nichts, keine Reaktion. Nicht eine Bewegung. Auf der rechten Hand des Mädchens klebt ein verkrustetes Gemisch aus Erbrochenem und Blut.
»Kochen Sie mal einen starken Kaffee«, befiehlt Manni der Mutter.
»Ja, natürlich, sofort.« Ruth Sollner hastet aus dem Zimmer.
Manni versucht erneut, das Mädchen zu wecken, gibt dann auf und vergewissert sich nur, dass ihr Atem frei und regelmäßig fließt, bevor er nach nebenan in die Küche geht, wo es jetzt verführerisch nach Kaffee riecht. Komasaufen ist eine Art Jugendsport heute. Die meisten Streifenbeamten können ein Lied davon singen.
Ruth Sollner schenkt ihm ein und stellt einen Teller mit Plätzchen auf den Tisch.
»Hat Ihre Tochter ein Alkoholproblem?«
»Nein, nein, das ist nur …« Sie bricht ab, fegt ein unsichtbares Stäubchen von der blank gewienerten Tischplatte. »Ein Virus«, flüstert sie.
Er setzt sich und isst ein Plätzchen. Dann noch eines. Spült mit Kaffee nach. Lässt ihr alle Zeit der Welt, ihre Lüge zu korrigieren. Was sie nicht tut. Natürlich nicht. Manni stellt seine Tasse ab.
»Ihre Tochter scheint sehr viel Alkohol zu trinken, Frau Sollner.«
Sie zuckt zusammen. »Nein, das ist nur … sie vermisst ihre Freundin manchmal und schlägt dann ein bisschen über die Stränge.«
»Seit wann arbeitet sie in der Telefonseelsorge?«
»Seit etwa einem halben Jahr.«
»Also so lange wie Georg Röttgen. Wie war ihr Verhältnis zu ihm?«
»Ihr Verhältnis?«
»Frau Sollner, kann es sein, dass Georg
Weitere Kostenlose Bücher