Farben der Schuld
sie in ein Wohnzimmer mit Blick auf den Rhein.
Der Tisch ist mit Teegeschirr und Gebäck eingedeckt, in einer schmalen chinesischen Vase leuchtet ein Strauß Narzissen. Ein handgroßer Bronzebuddha sitzt davor, unbestimmt lächelnd.
»Ich will dir also erzählen, wie es war. Wie dein Vater war.« Ludes räuspert sich. »Das hätte ich schon viel früher tun sollen.«
»Aber?«
Der Tee riecht nach Jasmin. Der Freund ihres Vaters ist sehr mager, seine Gesichtshaut wirkt beinahe durchscheinend, wie Pergament. Judith blickt aus dem Fenster, wo der Rhein strömt und strömt.
»Deine Mutter beschwor mich, dich in Ruhe zu lassen, die alten Wunden nicht aufzureißen. Ich habe ihren Wunsch respektiert.«
»Und jetzt?«
»Jetzt sterbe ich.« Er lächelt, trinkt einen Schluck Tee. »Da werden Dinge wichtig, die zuvor im Alltag untergingen. Die richtigen Dinge. Zumindest hoffe ich, dass es die richtigen Dinge sind.«
Ich hätte keine Zeit gehabt, irgendetwas zu ordnen, wenn ich in diesem Haus gestorben wäre. Genauso wenig wie jedes andere Mordopfer. Ganz unvermittelt ist dieser Gedanke da.
»Du hast deinen Vater sehr geliebt, Judith, und er dich auch. Du warst verzweifelt, als er plötzlich fort war, monatelang hast du nach ihm gefragt, hat deine Mutter gesagt.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Der Verlust war ein Schock für dich und du warst ja noch klein, gerade erst drei.«
Das Bild fällt ihr ein, das Foto, das sie auf den Knien ihres Vaters zeigt. War das eine Momentaufnahme oder Ausdruck einer alltäglichen Innigkeit? Beides ist möglich. Wie soll sie herausfinden, was die Wahrheit ist, wenn ihre Erinnerung nicht funktioniert?
»Wir wollten die Welt verändern, ach was, wir wollten sie überhaupt erst mal entdecken. Das freie Leben. Fremde Kulturen.« Der Rechtsanwalt betrachtet die Buddhaskulptur. »NEPAL – Never End Peace And Love«, sagt er dann. »Wir haben tatsächlich geglaubt, dass das möglich sei.«
Glauben. Hoffen. Vielleicht ist auch Georg Röttgens Glauben an seine Kirche einmal ebenso stark und rein gewesen. Vielleicht ist der Glaube, die Welt verändern zu können, ja ein Privileg der Jugend. Ihr eigener, wilder Glaube an die Gerechtigkeit fällt ihr ein. Die Welt verbessern wollte sie. Erst mit Cora in der Frauenbewegung, dann als Kommissarin.
»Ihr habt euch was vorgemacht«, sagt sie zu dem alten Freund ihres Vaters. »Ihr habt es Freiheit genannt, doch in Wirklichkeit habt ihr einfach eure Familien verlassen, um in einem Entwicklungsland abzuhängen, zu kiffen und zu vögeln.«
»Im Rückblick kann man das wohl so sehen, ja. Darauf lief es wohl hinaus.« Er lächelt. »Aber damals … wir wollten wirklich reisen, um zu entdecken, nicht um zu erobern. Weder mit Armeen noch mit 5-Sterne-Pauschaltourismus. 1969 waren wir ja Pioniere. Die ersten Rucksacktouristen, viele waren wir damals noch nicht. Wir reisten per Anhalter, mit Bussen und Eisenbahn. Durch Gebirge und Wüsten. Quer durch die Türkei, dann nach Afghanistan. Das war damals noch kein Kriegsgebiet und je weiter nach Osten wir kamen, desto mehr wurden wir angestaunt. Die Leute dachten wohl, wir wären Landarbeiter auf der Flucht vor einer großen Hungersnot und sie versorgten uns so gut es ging mit dem Wenigen, was sie hatten. Nahmen uns auf Eselskarren und Lastwagenladeflächen mit. Kandahar war unsere erste längere Station, eine Stadt aus Lehm. Da saßen wir und aßen den ersten Kebab unseres Lebens, er kam uns vollkommen exotisch vor, und die Afghanen tranken Tee und spielten Schach und die Nacht war warm und immer wieder zogen Beduinen mit Kamelherden an uns vorbei. Wir waren sprachlos, völlig überwältigt. Es war ja noch ein anderes Reisen damals, ohne Handy und Kreditkarte und Google-Earth. Eine Reise ins wirklich Unbekannte. Trotz aller Sagen, die sich um den Hippietrail rankten, waren wir völlig unvorbereitet auf die Fremde, wie sehr, fingen wir allmählich an zu begreifen. Weißt du, was damals das vordringlichste Geräusch in Kandahar war, Judith?«
»Nein.«
»Fahrradklingeln. Fast jeder fuhr Fahrrad, es war das Hauptverkehrsmittel in dieser damals noch vollkommen unzerstörten Stadt. Selbst in der Nacht ließ das Gebimmel kaum nach.«
»Fahrradklingeln.«
»Ja. Dein Vater hat sogar ein Lied darauf komponiert. Immer hat er auf seiner Gitarre gespielt, das hat uns die ganze Fahrt über begleitet.«
Ihr Vater war musikalisch, das hat ihr noch niemals jemand erzählt.
Volker Ludes hustet und lächelt
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