Farben der Schuld
versonnen, bevor er weitererzählt. Von Buddhatempeln mit Augen, von den unzähligen Hinduschreinen in Kathmandu, von den Märkten, Gewürzen und lächelnden Menschen. Von billigen Drogen und schäbigen Unterkünften und dem Gefühl unbändiger Freude, in den engen Gassen der Freakstreet auf Blumenkinder aus aller Welt zu stoßen, jung wie sie selbst, mit langen Haaren und leichtem Gepäck und denselben großen Träumen.
»Was ging schief?«
»Einige sind dort hängen geblieben, dem Heroin verfallen und jämmerlich krepiert.«
»Das meinte ich nicht.« Ihre Stimme schneidet, das hört sie selbst. Sie kann es nicht ändern. Fühlt plötzlich eine große Traurigkeit, als habe sie selbst gerade einen Traum verloren, als sei das nicht schon viel länger her.
»Wir waren drei, die ganze Zeit.« Volker Ludes hustet. »Folkes, das war ich. Tom, dein Vater und Sebastian. Wir wollten mehr, wir wollten in die Berge, ins Himalayamassiv. Den Göttern nah sein. Ein Irrsinn. Wir haben uns übernommen, aber das wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen, wenn Sebastian sich nicht den Fuß gebrochen hätte.«
»Und mein Vater?«
»Er war entkräftet. Das waren wir alle. Ich noch am wenigsten, denn ich hatte jahrelang Leichtathletik trainiert. Es begann zu schneien, ach was, ein regelrechter Blizzard brach über uns herein und es wurde dunkel. Es war gar nicht mehr weit bis zu diesem Kloster, in dem wir übernachten wollten, doch wir kamen so gut wie gar nicht voran. Zuerst haben wir Sebastian gezogen und schließlich habe ich ihn auf den Rücken genommen. Ich dachte, dein Vater käme uns hinterher. Es waren doch nur noch ein paar hundert Meter.«
»Du hast dich für Sebastian entschieden.«
»Wir hatten das gemeinsam beschlossen. Ich konnte doch nicht beide tragen. Ich dachte, Tom würde uns folgen oder zumindest die Spur halten, ich dachte, er hätte Kraft genug. Sobald ich das Kloster erreichte, zog ich mit ein paar Mönchen los, ihn zu holen, doch da war es schon zu spät.« Der Rechtsanwalt wischt sich über die Augen, seine Hände zittern. »Wir haben ihn erst am nächsten Morgen gefunden. Tot.«
»Er war erfroren.«
»Ja.«
»Wo ist Sebastian heute?«
»Er starb vor über zehn Jahren bei einem Autounfall.«
»Es gibt also keine Zeugen.«
»Außer mir – nein.«
Und jetzt soll ich sagen, dass ich dir glaube, damit du in Ruhe sterben kannst, denkt sie und versucht, sich vorzustellen, wie es gewesen sein muss. Flower-Power. So viel Hoffnung und Aufbruchstimmung, ein Trip zu den Göttern, die große Freiheit und dann bleiben Kälte und Hunger und Einsamkeit.
»Crosby, Stills, Nash und Young«, sagt Volker Ludes. »Die haben unser Lebensgefühl ausgedrückt, das war unsere Musik, deines Vaters Musik.«
Crosby, Stills, Nash und Young. Ausgerechnet. Die
Four Way Street.
Während des Sommers in Frankfurt hat sie die immer gehört. Anfang der 8oer Jahre ist das gewesen, in den Wäldern im Süden der Stadt tobte der Widerstand gegen den Ausbau des Flughafens. ›Keine Startbahn West‹ hatten sie skandiert und nicht für möglich gehalten, dass sie scheitern würden.
»Hier«, der Freund ihres Vaters beugt sich vor und hebt mit sichtlicher Anstrengung den Bronzebuddha hoch. »Den hat er für dich gekauft. Er wollte zurückkommen, Judith. Er wollte dich nicht für immer verlassen.«
Sie nimmt den Buddha, betrachtet sein Lächeln, streicht über die fein ziselierten Ornamente. Auf einmal fühlt sie sich, als wäre sie zu einer weiten Reise aufgebrochen und stecke nun in einem Niemandsland fest: ohne Verbindung zu dem Ort, den sie verlassen hat, ohne Sicht auf ihr Ziel.
»Du glaubst mir nicht. Du denkst, ich hätte deinen Vater retten können«, sagt Volker Ludes.
»Ich dachte immer, das Letzte, was er gesehen hat, waren die Sterne.«
»Da waren Sterne, Judith. Millionen Sterne. Sterne aus Schnee.«
***
Georg Röttgens Arbeitszimmer ist noch immer von der Polizei versiegelt, doch davon abgesehen wirken die Räume der Telefonseelsorge an diesem Abend wie immer. Das Licht ist gedämpft. Am Pinnbrett hängt der Dienstplan. Die Wand gegenüber zieren Naturfotografien: Sonnenuntergänge, Bäume, Wolken, Wasser und eine wogende Sommerwiese, jedes Bild ist mit einem Bibelspruch versehen. ›Der Herr ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln.‹ Doch was ist, wenn dieser Hirte seine Schäflein nicht auf grüne Auen führt, sondern in die Finsternis, weil er ihnen zürnt?
Ruth zieht ihren Mantel aus und hängt ihn an die
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