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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Röttgen ihre Tochter missbraucht hat?«
    Sie wird ganz starr, wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
    »Was reden Sie da?«
    »Beantworten Sie bitte einfach meine Frage.«
    Ihre Unterlippe zittert. »Sie meinen, er hat Bea … nein.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ich – er war doch …«
    »Ein katholischer Priester. Ja. Und er war sterilisiert.«
    »Sterilisiert?«
    »Frau Sollner, Sie verschweigen mir etwas. Das ist mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen.«
    »Nein. Nein.«
    Sie lügt. Sie weiß etwas. Genau wie die Priester. Mit jeder Faser kann er das spüren.
    »Ihr Chef, Georg Röttgen, war sterilisiert. Er hatte also mit großer Wahrscheinlichkeit Geschlechtsverkehr.«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Wir suchen seinen Mörder, Frau Sollner. Wir sind darauf angewiesen, dass Sie mit uns kooperieren. Sie sind sogar gesetzlich dazu verpflichtet. Genauso wie Ihre Tochter.«
    Von nebenan ist ein würgendes Geräusch zu hören. Das Gruftigirl erleichtert seinen Magen ein weiteres Mal.
    ***
    Auf dem Bahnsteig stellt Judith sich zu den anderen Rauchern in das mit gelben Linien markierte Feld. Es ist wie im Zoo, denkt sie. Demnächst sperren sie uns in Glaskästen ein und gaffen uns an wie exotische Tiere oder wie diese armen Krüppel, die man früher auf Jahrmärkten präsentierte. Sie raucht ihre Zigarette trotzdem und denkt über Georg Röttgen nach. In der Kölner Frauenszene galt er als Hardliner, als Günstling des Kardinals, hat ihre Freundin Cora ihr verraten. Röttgen predigte schon mal vom Lebensrecht eines ›Zweizellenmenschen‹ im Mutterleib, hetzte gegen Abtreibung und Verhütung und außerehelichen Geschlechtsverkehr, machte den katholischen Frauenberatungen das Leben schwer.
    Doppelmoral. Scheinheiligkeit. Ist es das, was den Hass des Mörders schürt? Vielleicht sieht er sich ja wirklich als Vollstrecker der göttlichen Moral, wie Ralf Meuser vermutet. Doch wenn es so ist, warum hat er dann auch Jens Weiß getötet, dessen Ehefrau schwört, dass er weder besonders gläubig war noch sie betrogen hat?
    Der Urologe, der Jens Weiß sterilisierte, hat glaubhaft versichert, Georg Röttgen weder zu kennen noch behandelt zu haben. Bei seiner eigenen Krankenkasse hat der Priester eine Sterilisation nicht abgerechnet. Die Sterilisation des Mannes sei ein eher kleinerer Eingriff, hat der Urologe Judith erklärt. Man könne sich unter Umständen im Ausland oder privat in einer ambulanten Praxis sterilisieren lassen, sogar unter falschem Namen. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Männern, die sich zu diesem Schritt entschließen, hat Judith gefragt. Fast alle haben zuvor bereits Kinder gezeugt, antwortete der Arzt ohne zu zögern. Einige lassen zur Sicherheit vor der OP sogar noch eine Samenspende hinterlegen, denn die Sterilisation rückgängig zu machen ist schwer. Judith wählt Mannis Handynummer, erreicht nur seine Mobilbox.
    »Vielleicht hat Röttgen ein Kind gezeugt«, sagt sie. »Vielleicht gibt es dieses Kind irgendwo.«
    Der Zug nach Bonn fährt ein, und Judith ergattert einen Sitzplatz am Fenster. Väter und Kinder, Kinder und Väter. Das kann eine elementare Beziehung sein, stärkend oder zerstörend, oder eine, die gar nicht existiert. Selbst eine Mutter, die ihr neugeborenes Kind sofort nach der Geburt verstößt, war mit ihm zumindest neun Monate lang körperlich verbunden. Doch für den Vater gilt das nicht, er muss den Kindern, die er gezeugt hat, nicht ein einziges Mal begegnen, in Zeiten moderner Fortpflanzungsmedizin muss er mit der Mutter nicht einmal Geschlechtsverkehr haben. Und trotzdem tragen seine Kinder etwas von ihm in sich weiter, selbst wenn sie niemals erfahren, wer ihr Vater ist.
    Judith starrt aus dem Fenster. Der Regen hat endlich aufgehört, ein Streifen gelbe Nachmittagssonne schafft es durch die bleigrauen Wolken und gleißt in den Pfützen auf den Äckern. In einigen Büschen liegt schon eine Ahnung von Grün. Ich lebe, denkt Judith. Ich bin verletzlich und ich bin verwundet, aber ich lebe.
    Volker Ludes, der Jugendfreund ihres Vaters, bewohnt eine Villa mit Rheinblick. Der dreiteilige Klingelton scheint in dem Haus zu verhallen, es dauert lange, bis Judith schwerfällige Schritte hört.
    »Ich bitte um Entschuldigung, aber der Krebs macht mich langsam.«
    Der Anwalt stützt sich auf einen Gehstock mit Silbergriff.
    »Mein Gott, deine Augen, du bist ihm so ähnlich«, sagt er. »Du – Sie, ich weiß gar nicht…«
    »Du ist schon okay.« Judiths Stimme ist rau.
    Er führt

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