Farben der Schuld
Weise auffällig wäre, ist vor der Kirche zu sehen. Wieso glaubt sie trotzdem, dass sich an diesem Ort der Schlüssel zur Lösung verbirgt? Judith tritt durch das Steintor, betrachtet die Silhouette der Kirche, die Bäume und Büsche. Nichts regt sich, alles ist still. Die Panik lauert, bereit sie anzuspringen. Etwas ist hier. Ich kann es spüren.
Der Fußweg zur Kirche ist ein schwarzes Band. Jens Weiß ist hier gegangen. Erwin Bloch. Georg Röttgen und Hartmut Warnholz mit Sicherheit auch. 23.57 Uhr, kurz vor Mitternacht. Judith umfasst ihre Walther und zwingt sich weiter. Jeder ihrer Schritte scheint überlaut nachzuhalten. Es gibt keine Sicherheit, hat sie zu Hartmut Warnholz gesagt. Das Leben ist unberechenbar. Aber das war nicht die ganze Wahrheit, weil es tief in ihr drin etwas gibt, das verletzt ist, verletzlich, doch nicht vollständig zerstört. Weil sie sich darauf verlassen kann, solange sie lebt.
Noch ein Schritt. Und noch ein Schritt. Stehen bleiben. Sichern. Umdrehen. Sichern. Weiter. Nach einer kleinen Ewigkeit erreicht sie den Kirchenvorplatz, duckt sich hinter einen Busch, dann neben einen Baum.
Jetzt kann sie es sehen. Ihr Instinkt war richtig. Sie ist nicht allein. Jemand ist dort am Kirchenportal.
Die Walther zittert in ihrer Hand, der Schmerz in der Linken schießt Blitze, als sie nach ihrem Handy tastet. Endlich, da ist es, doch sie kann es nicht halten, es rutscht ihr durch die Finger, fällt, schlägt auf. Verdammt. Verdammt. Auch die Gestalt in dem dunklen Mantel hat es gehört. Sieht zu Judith herüber, richtet sich auf.
»Polizei! Keine Bewegung!«
»Bitte, ich …« Die Gestalt friert ein, etwas gleitet aus ihrer Hand. Lautlos. Hell.
»Mein Mann … ich bin … ich wollte nur …«
Nora Weiß. Die Frau des Chirurgen. Kein Mörder. Kein weiterer Mord und kein weiteres Opfer. Nur eine trauernde Frau und ein Strauß weißer Rosen, der auf den Stufen der Kirche liegt.
Langsam lässt Judith die Waffe sinken. Sie müsste erleichtert sein, doch falls das so ist, kann sie es nicht spüren.
Dienstag, 28. Februar
Nebel, nasskalt und schwer, verschluckt das hereinbrechende Tageslicht. Manni rennt los. Er rennt schnell, hart am Limit. Die kalte Luft beißt in seinen Lungen, seine Beinmuskeln brennen, doch das ist ihm egal, Adrenalin treibt ihn an. Den Rest des gestrigen Abends hat er in der Sporthalle seines Karatevereins verbracht. Erst im Training, dann bei einer Extraschicht für sich allein, so lange, bis sie ihn rausgeschmissen haben und er ohnehin völlig ausgepumpt war. Aber es hat nichts geholfen und auch jetzt hört er immer noch Sonjas Worte, bei jedem Schritt, so schnell er auch rennt. Ich krieg meine Tagenicht-Tagenicht-Tagenicht. Er kehrt um, joggt nach Hause, duscht, zieht sich an. Sie hat nicht versucht, ihn zurückzuhalten, als er bald nach ihrer Eröffnung gegangen ist. Sie hat ihn einfach nur angesehen und sich von ihm umarmen lassen. Tschüs, Sonni, hat er gesagt, ich muss los, ich melde mich.
Auf der Fahrt ins Präsidium wird der Nebel zu Regen. Sein Handy bleibt still, wie schon in der Nacht. An einer Ampel liest er die Überschriften der Boulevardpresse in den Verkaufsautomaten: ›Kölns Priester in Angst!‹ ›Polizei hat noch immer keine Spur‹. Das KK n wirkt wie ausgestorben, er sucht Judith Krieger und findet sie in ihrem Minibüro, tief über die Kopie eines Stadtplans gebeugt, in dessen Zentrum er Sankt Pantaleon erkennt. Sie nickt ihm zu, malt einen roten Kringel um die Kirche, dann einen weiteren um den zweiten Tatort, die Kirche des Priesterseminars, die nördlich der Shoppingzonen der Innenstadt liegt. Ihr linkes Handgelenk ist bandagiert und sie trägt ziemlich schicke Klamotten, doch davon abgesehen, wirkt sie fast wie in alten Zeiten. Ein bisschen zu blass und ein bisschen zu stur – ein untrügliches Zeichen, dass sie sich auf etwas eingeschossen hat und ihre Spur verfolgen wird, selbst wenn sie sich damit Feinde macht.
»Priesterkinder«, sagt sie. »Niemand weiß, wie viele es in Deutschland gibt. 800? 2000? Aber es gibt mehrere Betroffeneninitiativen und Umfragen, hier wie in anderen Ländern. Demnach dürften etwa die Hälfte der etwa 17.000 katholischen Geistlichen trotz der Verpflichtung zum Zölibat sexuelle Beziehungen unterhalten.«
»Das glaub ich sofort, aber Röttgen war sterilisiert«, sagt Manni und lehnt sich an die Tür.
»Willst du Kinder?« Die Krieger legt den Kopf schief und mustert ihn.
»Kinder?« Ganz schlechte Frage,
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