Farben der Schuld
anzufangen, aber sie hat keine Kraft mehr, ihm höflich zu antworten, drückt ihre Stirn an die Scheibe und starrt in den Regen. Bestimmt ist Bea nichts passiert. Bestimmt, ganz bestimmt.
Der Hausschlüssel liegt wie Blei in ihrer Hand, ihre Wohnung ist kalt, leer, unberührt. Nicht einmal das Rascheln der Heuschrecken ist zu hören. Langsam, wie in Trance, wankt Ruth durch die Zimmer.
»Bea? Bea?«
Nichts. Keine Antwort. Nur der Anrufbeantworter blinkt, und bestimmt ist das ein gutes Zeichen, bestimmt, ganz bestimmt.
Ruth holt tief Luft und drückt auf die Wiedergabetaste.
»Hier ist die Friedhofsgärtnerei Stein, guten Morgen Frau Sollner. Es tut uns sehr leid, aber da Beatrice schon wieder nicht zur Arbeit gekommen ist, müssen wir das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung beenden.«
***
Furcht und Hoffnung bewirken das Gleiche – sie schwächen, steht in Judiths Nepal-Bildband unter einem Panorama aus kargen, schneestarren Bergen. Es ist eine sehr buddhistische Sichtweise, schwer zu verstehen, doch jetzt, während der externe Ermittler sie zurück zu dem Haus ihrer Albträume fährt, erscheinen ihr diese Worte auf einmal sehr logisch, sehr wahr. Es hat keinen Sinn, auf die Zukunft zu hoffen oder sich vor ihr zu fürchten. Man hat keine Kontrolle darüber, weiß nicht, was sie bringt. Das Einzige, was man – zumindest ansatzweise – beeinflussen kann, ist die Gegenwart.
Regen prasselt aufs Autodach, Regen, Regen, immer nur Regen, seit es hell wurde, geht das schon so. Die Unruhe, die sie in der Nacht auf die Straße trieb, ist nach wie vor da. Stärker jetzt. Sie hat nicht mehr geschlafen, seit sie Nora Weiß bei Sankt Pantaleon begegnet ist, ist stattdessen ins Präsidium gefahren. Sie denkt an die Erzählungen von Volker Ludes, denkt an ihren Vater in seiner Todesnacht, die Sterne aus Schnee, die fielen und fielen, die Hoffnungen, die sie unter sich begruben, das Leben. Hatte er Angst, war er verzweifelt, hat er gekämpft? Sie wird das niemals erfahren, jetzt nicht, später nicht.
Warum sind Sie in dieses Haus gegangen, KHK Krieger? Warum haben Sie nicht auf Ihren Kollegen gewartet? In Millstätts Büro hat sie diese Fragen ein weiteres Mal beantwortet, dieselben Fragen wie schon so oft zuvor. Aber etwas ist diesmal anders gewesen, etwas hat sich verändert, seitdem Hartmut Warnholz sie das Entsetzen noch einmal fühlen ließ. Gut, gut, hat der Ermittler, von dessen Urteil ihre Zukunft entscheidend abhängt, schließlich gesagt. Dann machen wir jetzt noch einen Ortstermin.
Sie hebt den Blick, begegnet seinen Augen im Rückspiegel. Sie sind eisblau mit beinahe durchsichtigen Wimpern. Sie glaubt, einen Anflug von Mitleid in diesen Augen zu lesen, dann wieder Kälte, Gleichgültigkeit. Ist er ein Freund Holger Kühns, dazu bestellt, sie fertigzumachen? Sie kann das nicht einschätzen, sie bekommt kein Gefühl für ihn, erinnert sich plötzlich wieder an diese Affen, denen man die Amygdala entfernt hat, ihr emotionales Gedächtnis, ihre Intuition.
»Hier vorne rechts.« Ihre Stimme ist rau.
Der fremde Kommissar nickt und setzt den Blinker.
»Wo haben Sie damals geparkt?«
»Gegenüber, unter dem Baum.«
»Hier?«
»Ja.«
Dasselbe Haus. Jetzt, im Tageslicht, kommt es ihr freundlicher vor, heller, viel weniger wie eine Festung. Sie dreht sich eine Zigarette, steigt aus, zündet sie an.
»Geben Sie mir fünf Minuten, ja?«
Der Kommissar nickt, reicht ihr einen Schirm und setzt sich wieder ins Auto.
Regen trommelt auf ihren Schirm. Das Nikotin, das sie tief in die Lungen saugt, ist Gift und tut ihr trotzdem gut. Wie war es in jener Nacht, wie ist es jetzt? Das Licht ist der alles entscheidende Faktor, hat Karl gesagt, als sie über seine Lochkamera-Fotos sprachen. Die lange Belichtungszeit verfremdet, verzerrt, überstrahlt, verwischt. Hat sie gewusst, dass sie in diesem Haus, vor dem sie jetzt steht, jemanden töten und selbst beinahe sterben würde, hat sie es geahnt, als sie zum ersten Mal vor ihm stand? Sie zieht an ihrer Zigarette, schnippt die Asche in den Rinnstein. Da ist nichts in ihrer Erinnerung, da war keine Warnung. Nicht einmal, dass das Haus kalkweiß getüncht ist, hat sie richtig registriert.
»Okay, wir können.« Sie tritt ihre Kippe aus, nickt dem Ermittler zu.
Er schließt die Haustür auf, überlässt ihr den Vortritt. Es ist kalt in dem Haus, kälter als damals. Es riecht nach Benzin, nicht mehr sehr stark, aber sie merkt es sofort und beginnt zu schwitzen und in ihrem
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