Farben der Schuld
holt Bat sie aus ihrer Manteltasche, zoomt die beiden ran, so gut es geht, und drückt auf den Auslöser.
Der Blitz flackert auf, grell, viel zu grell. Bat duckt sich vom Fenster weg und presst sich an die Wand. Sie wagt kaum, zu atmen, sie wagt nicht einmal zu blinzeln. Scheiße, verdammte, an den Blitz hat sie nicht gedacht. Erst nach einer halben Ewigkeit traut sie sich ganz vorsichtig, wieder durch die kaputte Scheibe zu spähen. Das Mädel ist jetzt allein, eine Tür neben dem Sofa steht auf. Das Mädel scheint etwas zu rufen, dann setzt sie sich wieder auf den Hocker, streicht sich die Locken aus dem Gesicht und greift nach der Gitarre.
Der Schmerz kommt so schnell, dass Bat gar nichts kapiert. Wie eine Stichflamme jagt er durch ihren Körper und lässt sie fallen, fallen, fallen. Sie will sich herumdrehen, sie will sehen, woher dieser Schmerz kommt, dieses irrsinnige Brennen, aber sie hat keine Chance, sie kann sich nicht mehr bewegen und alles wird schwarz.
***
Sie erwacht mit einem Ruck, ihr Herz pumpt in harten Stößen, ihr T-Shirt ist nass geschwitzt. Ein Mord ist geschehen, ein weiterer Mord oder hat sie das nur geträumt? Es ist 23.14 Uhr. Nach dem
Debriefing
war sie so erschöpft, dass sie einfach ins Bett gekrochen ist und sechs Stunden lang wie ein Stein geschlafen hat. Judith stolpert ins Bad, schöpft sich kaltes Wasser ins Gesicht und trinkt einige Schlucke in durstigen Zügen.
Was war das Allerschlimmste für Sie, Judith, hat Hartmut Warnholz gefragt. Was war das wirklich Furchtbarste in diesem Haus, das, was Sie glauben, nicht aushalten zu können? – Als ich begriff, dass die Zeugin tot war, die ich doch eigentlich schützen sollte, hat sie zunächst gesagt. Aber der Polizeiseelsorger wollte tiefer vordringen, er wollte ganz genau wissen, was sie wann gefühlt hatte, und dann ist der Schutzwall, den sie in den letzten Wochen so mühsam versucht hat zu errichten, zerbrochen. Dann war sie noch einmal in diesem unerträglich winzigen, gekachelten Raum gefangen, blutend, benommen, mit gebrochenen Knochen. Und sie roch das Benzin, das der Mörder ausschüttete, und das panische Entsetzen darüber, dass sie gleich bei lebendigem Leibe verbrennen würde, überlagerte noch einmal jedes andere Gefühl.
Aber sie ist nicht verbrannt und sie selbst hat das verhindert, jedenfalls zum Teil. Auch das hat Hartmut Warnholz sie fühlen lassen. Sie ist nicht vollkommen hilflos gewesen. Sie hat überlebt.
STAYING ALIVE. Sie nickt ihrem Spiegelbild zu, geht ins Wohnzimmer und dreht sich eine Zigarette. Weder auf ihrem Handy noch auf dem Festnetztelefon ist eine Nachricht eingegangen. Sie zündet die Zigarette an und wählt die Nummer der Polizeileitstelle. Nein, sagt der Beamte am anderen Ende der Leitung, nichts ist geschehen, kein weiterer Mord und auch nichts anderes, was für die Soko Priester von Interesse ist.
23:21 Uhr. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Judith geht zum Fenster, starrt hinaus. Drei Männer treffen sich einmal pro Woche, um gemeinsam Musik zu machen. Die Männer sind Priester. Einer stirbt an einem Herzinfarkt. Der zweite wird ein halbes Jahr später ermordet. Er und ein Arzt. Doch der dritte Mann schweigt. Warum, denkt Judith. Warum ist ihm sein Schweigen wichtiger als die Aufklärung des Mordes an einem Freund? Was ist so schrecklich, dass es niemand erfahren soll?
Auf dem Couchtisch liegt noch die Tarotkarte, die sie vor dem Termin mit dem Polizeiseelsorger gezogen hatte: Die Prinzessin der Scheiben. Die schwangere Frau. Der Buddha ihres Vaters sitzt daneben und lächelt. Judith drückt ihre Zigarette aus, zieht sich ein frisches T-Shirt an, Jeans, Socken, ein Kapuzensweatshirt und die neuen Stiefel. Die Walther wiegt schwer in ihrer Hand, schwerer, als sie es in Erinnerung hat, und mit links hat sie keinerlei Kraft, die Waffe zu stabilisieren. Trotzdem nimmt Judith auch das Holster aus der Nachttischschublade, legt seine Riemen um Hüfte und Schulter und schiebt die geladene Pistole hinein.
Aus Karl Hofers Wohnung dringt heute keine Musik. Unten auf der Straße ist kaum etwas los, nur ein paar Nachtschwärmer hasten an Judith vorbei. Sie läuft am Volksgarten entlang, biegt dann nach rechts in die Eifelstraße, in Richtung Sankt Pantaleon. Die Luft ist kühl und feucht und riecht nach Erde.
Ein weiterer Mord – vielleicht hat sie das nur geträumt. Doch ihre Unruhe ist kein Traum, sie ist real, treibt sie voran.
Kein Blaulicht, kein Polizeiauto, nichts, was in irgendeiner
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