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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Handgelenk pocht der Schmerz, ja selbst ihre Rippen, die längst verheilt sind, scheinen erneut unter den Fußtritten zu splittern.
    Du bist in Sicherheit. Du bist in der Gegenwart, nur die ist real. Sie tastet nach ihrer Walther, hält abrupt inne, als sie den eisblauen Blick des fremden Ermittlers bemerkt. Mühsam setzt sie sich in Bewegung, jeder Schritt ist ein Kraftakt, jeder Schritt ist ein Sieg. Schließlich steht sie wieder am Tatort und ganz offenbar hat hier seit dem Abzug der Polizei niemand etwas verändert. Das Haus steht leer. Niemand lebt hier mehr. Nur das Fenster zum Garten, das Manni zerbrochen hat, hat jemand ersetzt.
    »Zeigen Sie mir, wo Sie sich befanden, als Sie die Zeugin vernahmen.«
    Wie von weit her hört sie die Stimme des Kommissars, wie durch einen Wall aus Watte.
    Wieder zwingt Judith sich vorwärts, hölzern. Setzt sich noch einmal auf diesen Sessel.
    »Hier.«
    »Und von wo kam der Täter?«
    Sie dreht sich herum. Sieht die zweite Tür in dem Raum, halb verborgen im Schatten hinter einem Regal, sieht den weichen Teppich auf dem Parkett. Ich hatte tatsächlich gar keine Chance. Ich wusste nichts von dieser Tür, ich konnte sie nicht sehen, ich konnte die Schritte nicht hören, es ist ein Wunder, dass ich noch lebe.
    »KHK Krieger? Hallo? Hören Sie mich?«
    »Ja.«
    Sie stemmt sich hoch, führt den Kommissar in den Flur, durch den der Täter sie schleifte. Damals, halb bewusstlos vor Schmerzen, kam ihr der Flur vor wie ein schwarzer Schlund, jetzt wirkt er geräumig und freundlich. An den Wänden hängen Aquarelle von Blumen.
    »Hier hat er mich eingesperrt. Hier habe ich ihn getötet.«
    Schweiß kriecht als juckendes Rinnsal über ihre Schläfen.
    Wieder glaubt sie so etwas wie Mitgefühl in den Augen ihres Gegenübers zu lesen.
    Erri hatte solch leuchtende Augen. Hellgrün schimmernd wie der See, an dessen Ufer sie trotz des nahen Flughafens einen Sommer lang glaubten, sie könnten die Welt verbessern. Nein, nicht glaubten – fühlten, lebten, zelebrierten.
    »Zeigen Sie mir, wie, KHK Krieger.«
    Sie geht in die Hocke, vollzieht die Bewegungen des Kampfes noch einmal als Pantomime. Die Fliesen sind dunkel von getrocknetem Blut. Ihr Blut. Sein Blut. Sie verliert das Zeitgefühl, flieht aus diesem Raum und ist wieder Teenager. Läuft in Jeans, Afghanhemd und Jesuslatschen durch einen Sommerregenschauer die Straße herunter, den Gitarrenprotest von Neil Young im Ohr und Erri an ihrer Seite, lachend, tanzend. Sie waren so jung damals, sie patschten mit kindlichem Spaß durch die Pfützen, und trotzdem ist dieser Frankfurter Sommer so greifbar, so nah, als sei keine Zeit vergangen seitdem, als sei auch die Judith von damals jetzt hier, ein Kern von ihr, den sie sich durch all die Jahre bewahrt hat, und vielleicht ist es das, was der Polizeiseelsorger Hartmut Warnholz meinte, wenn er von ihrer inneren Stärke sprach, von ihrem ureigensten Ich.
    Ich wollte nicht sterben. Ich wollte leben, mein eigenes Leben retten.
    »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
    Sie richtet sich auf, wendet sich ab. Geht zurück durch den Flur und das Zimmer auf die Straße. Es regnet immer noch, stärker sogar. Die Forsythien in den Vorgärten werden bald blühen. Judith duckt sich unter den schmalen Dachvorstand einer Garage, dreht sich eine weitere Zigarette, denkt plötzlich an Karl, stellt sich vor, wie es wäre, die Linien in seinem Gesicht mit den Fingern nachzuzeichnen, in seine Haare zu fassen, ihn zu umarmen.
    Das Licht ist so wichtig, das Licht kann so vieles verändern. Das Licht und die Schatten. Sie hat nicht gesehen, dass dieses Haus ihrer Albträume einen zweiten Eingang hat. Sie hat letzte Nacht bei Sankt Pantaleon Nora Weiß nicht sofort erkannt, weil die Straßenlaterne nicht funktioniert.
    Sie zündet ihre Zigarette an, inhaliert tief. Sie müssen noch mal von vorne anfangen. Sie sind von falschen Voraussetzungen ausgegangen und haben deshalb etwas Wesentliches übersehen. Das Licht ist der Schlüssel, denkt sie.
    ***
    Vor ihnen erhebt sich der Dom über die Altstadt, majestätisch und grau. Vor drei Jahren, als Manni nach Köln versetzt wurde, war dieser Anblick ein Kick für ihn, ein Symbol des Triumphs. Der Dom hieß, dass er die Vergangenheit in Rheindorf endgültig hinter sich gelassen hatte. Dass das Beste noch vor ihm lag, zum Greifen nah: coole Mädchen. Ein cooler Job. Beförderungen. Erfolge. Wettkämpfe. Der zweite Dan. Er hatte nicht vorgehabt, eine Familie zu gründen, und wenn

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