Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
jedem Schritt spürte der junge Priester diesen massigen Wächter, der ihn beobachtete, in seinem Rücken. Die Gegenwart des Tempels drückte seine Stimmung noch tiefer hinab und verstärkte sein Gefühl der Verwirrung, mit dem er am Morgen seines vierundzwanzigsten Geburtstages aufgewacht war.
Je weiter er ging, desto belebter wurden die Straßen. Vor ihm erhoben sich Stimmengewirr und wilde Schreie wie aus einer exotischen Menagerie. Der Regen war zu einem stetigen Nieseln abgeflaut, als der Priester den großen Platz mit dem Namen »Platz der Freiheit« betrat, der an drei Seiten von fernen Marmorgebäuden begrenzt wurde, hinter denen wiederum undeutlichere Giebel und Türme zu erkennen waren, die von dem Regenvorhang teilweise verdeckt wurden.
Das schlechte Wetter hatte die gewaltige Menge der Gläubigen kaum verringert, die sich auf dem Platz versammelt hatten, um das herannahende Fest des Augere el Mhann zu erwarten, das jedoch noch fast einen Monat
entfernt war. Es waren in der Mehrheit Pilger aus dem ganzen Reich, die diesmal in noch größerer Zahl als gewöhnlich herbeigelockt worden waren, da dieses Augere den fünfzigsten Jahrestag der mhannischen Herrschaft bezeichnete. Es waren Männer und Frauen, allesamt Fremde, die die Religion von Mhann eifrig angenommen hatten, obwohl viele ihrer Landesgenossen noch immer darüber verbittert waren und nach Aufstand riefen. Alle trugen das einfache Gewand des Laiengläubigen: eine Robe von lebhaftem Rot, die ihnen bis fast auf die nackten Füße reichte. Die Vorderseite ihrer verschmutzten Kleidung legte Zeugnis ab von ihrer Konvertierung: weiße Abdrücke von Handflächen, die vom Alter fleckig geworden waren und nun nur noch ein gesprenkeltes Rosa zeigten.
Auch nach einigen Jahren in dieser Stadt hatte sich der junge Priester Ché noch immer nicht an den Anblick und die Geräusche dieser Massenanbetungen gewöhnt. Als er mit platschenden Schritten über die Steinplatten eilte, mit denen der Platz ausgelegt war, beäugte er seine Umgebung aus der Sicherheit der aufgesetzten Kapuze heraus.
Die Pilger riefen in vielen Sprachen, während sie wild umherschlugen. Manche lauschten mit glänzenden Augen den Brandpredigten der Priester, die auf überdachten Podesten hockten. Es waren Hitzköpfe, die wild gestikulierten, auf die nickenden Zuhörer einbrüllten und deren Zustimmung forderten. Sie rissen sich die blutenden Gesichter mit Stacheln auf, oder paradierten mit brennenden Haarschöpfen umher, oder kopulierten auf
dem Boden, oder wanderten einfach nur wie verwirrte Touristen umher und betrachteten die Ereignisse mit weit aufgerissenen Mündern.
Ché umrundete eine gewaltige Masse der Gleichheit, die sich von der einen Seite des Platzes bis fast zur anderen erstreckte. Es waren mindestens zehntausend Konvertiten, die sich auf den regenverhüllten Tempel des Wisperns ausgerichtet hatten und alle in roten Roben steckten. Sie hatten die Arme erhoben und sangen unablässig, während auf ihren Gesichtern der Glanz des Eifers lag, der sie zum Ritual des Übertritts nach Q’os gezogen hatte.
Gemeinsam knieten sie auf den Steinplatten nieder; zehntausend Roben raschelten wie ein Murmeln im Wind. Sie legten sich flach auf den Boden, standen wieder auf, nur um das Ritual zu wiederholen. Der junge Priester ging an den Reihen der regennassen Konvertiten entlang, die darauf warteten, vortreten zu dürfen und die bemalte Hand eines geweihten Priesters von Q’os auf die Brust ihrer Robe gedrückt zu bekommen. Ché wurde auch hier nicht langsamer. Die Pilger machten ihm Platz, sobald sie seine weiße Robe erkannten. Er ging unter den Beinen einer triefenden Statue der Heiligen Matriarchin Sascheen entlang, die auf einem sich aufbäumenden weißen Zel saß, und passierte dann die von Nihilis, dem Gründungspatriarchen des neuen Ordens, dessen Bronzegesicht grimmig und alt auf ihn herunterstarrte.
Am östlichen Ende des Platzes dünnte die Menge allmählich aus, und die Pilger mischten sich mit den gewöhnlichen
Bürgern, die ihren Tagesgeschäften nachgingen. Die üblichen Verkaufskarren mit ihren einfachen, durchhängenden Markisen waren aufgestellt worden, unter denen die Eigner Pappbecher mit heißem Chee, Schüsseln mit Suppe und zusammengerollte Regenjacken verkauften. Andere standen mitten im Regen und boten Andenken feil: billige Zinnfigürchen von Sascheen, Mokabi oder Nihilis. Sie betrachteten die Aktivitäten um sie herum mit freundlichen Blicken und sahen immer
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