Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
geschlichen waren. Als sich Nico von dem Seher abwandte, rief ihm dieser nach: »Junge!«
Sein Ruf hielt Nico zurück. Der alte Mann schmatzte mit den Lippen und schaute ihn von unten an.
»Du hast mich noch nicht nach einer Weissagung gefragt. Du hast aber heute Nacht das Recht dazu.«
»Ich wüsste nicht, was ich fragen sollte.«
Der alte Farlander hielt den Kopf schräg. »Du willst nicht zu diesem verrückten Abenteuer aufbrechen.«
Nico warf einen Blick zurück und wollte feststellen, ob Asch ihm zuhörte, aber sein Meister war schon nach draußen gegangen. Er sah den Seher wieder an und machte den Mund auf, doch kein Wort drang daraus hervor.
»Du befürchtest, dass du noch nicht reif für diese Vendetta bist, zu der dich dein Meister mitnimmt. Du befürchtest, dass du damit überfordert bist.«
Das stimmte. Den ganzen Tag hatte Nico daran gedacht, dass er am nächsten Morgen diesen versteckten Zufluchtsort in den Bergen verlassen musste – diesen Ort, an dem er sich allmählich heimisch fühlte. Und wofür? Er würde das Meer überqueren und in die Stadt
Q’os gehen, ins Herz des Reiches, um dort niemand geringeren als den Sohn der Heiligen Matriarchin zu töten, und dabei konnte Nico doch noch kaum ein Schwert halten. Gütige Erēs, es brachte sein Blut in Wallung, wenn er nur daran dachte.
»Willst du meinem Rat lauschen?«, fragte der Seher.
Nico räusperte sich. »Um die Wahrheit zu sagen, bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich an all das glaube – an Weissagungen und so weiter. Vielleicht wäre Euer Rat an mich verschwendet.«
»Wisse dies, mein junger Freund. Die Samen der Dinge zeigen bereits die Früchte, die ihnen entsprießen werden.«
Nico nickte eher aus Höflichkeit als aus einem anderen Grund.
»Wenn die Zeit gekommen ist, ihn zu verlassen, musst du deinem Herzen folgen.«
»Was?«
Der alte Mann lächelte und packte die Utensilien weg.
Nico schritt schweigend durch die Tür und trat nach draußen.
Um sie herum lag die Stille der Nacht; selbst das Rauschen des Flusses wirkte nun gedämpft. Meister Asch stand schweigend am Ufer und sah zu, wie das Wasser zwischen den Felsen hindurchsprudelte.
Gemeinsam gingen sie durch das Halbdunkel zurück.
»Ein seltsamer Knabe«, bemerkte Nico.
Sofort stellte sich Asch gegen seinen Lehrjungen. »Du schuldest diesem Mann größeren Respekt«, fuhr er Nico an. Doch dann schien er seinen Gefühlsausbruch zu bedauern
und versuchte etwas anderes zu sagen – vielleicht eine Entschuldigung. Doch er fand keine Worte. Stattdessen drehte er sich um und ging weiter.
Im Schein der Monde des Verlustes und der Sehnsucht stiegen die beiden Gestalten langsam hinab, verloren in ihren eigenen Gedanken. Unter ihnen hoben sich die warmen und willkommenen Lichter des Klosters deutlich von dem Wald aus silbrigen Blättern ab.
KAPITEL NEUNZEHN
Der Diplomat
Am ersten Tag des Herbstes in jenem Jahr, das bald das fünfzigste Jahr von Mhann sein würde, tobte ein ohrenbetäubendes Gewitter und schlug mit seinem Regen gegen jede Oberfläche wie eine Lawine aus Glas. Ein Mann eilte vom dunklen und geschützten Eingang zum Tempel des Flüsterns weg, warf sich die Kapuze über den kahlgeschorenen Schädel und lief mit schnellen Schritten über die Planken der Holzbrücke. Seine priesterliche weiße Robe peitschte im Wind hinter ihm her, und das Stampfen seiner Schritte verlor sich in den brausenden Wassern des Festungsgrabens unter ihm.
Der Mann hielt nicht an, als er die maskierten Akolyten passierte, die im Schutz des Wächterhäuschens am anderen Ende der Brücke standen. Er hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet, während ihn seine schnellen Schritte durch die leeren Straßen des Tempelbezirks trugen. Seine Haut juckte unablässig, so dass er sich immer wieder an Gesicht und Armen kratzte. Einige andere Priester huschten an ihm vorbei; sie hatten die ebenfalls
unter Kapuzen verborgenen Köpfe vor dem Wüten der Elemente demütig gesenkt. Pfützen brodelten und warfen kein Spiegelbild. Eine weiße Katze rannte in einen Eingang und blieb dort still und wachsam sitzen.
Hinter ihm, weit hinter ihm, erhob sich der Tempel des Flüsterns in den Regenvorhängen wie ein lebendiges Wesen; seine Flanken sträubten sich mit Stacheln in solcher Anzahl, dass sie wie ein Fellüberzug wirkten; und der Turm war nicht ein einziger Turm, sondern eine große, gewundene Säule kannelierter Pfeiler und Türmchen, die durch steinerne Bänder zusammengehalten wurden. Mit
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