Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
zog die Hand weg. Was hatte er sich bloß dabei gedacht?
Er drehte sich um und wollte gehen – und hätte vor Entsetzen beinahe die Geldbörse fallen lassen. Der alte Farlander saß aufrecht und blinzelte ihn aus seltsamen, runzligen Augen an.
Nico spürte, wie sich ihm die Eingeweide umdrehten. Er konnte sich nicht bewegen. Er warf einen Blick zur Tür, zum Fenster und leckte sich die trockenen Lippen.
Der alte Mann drehte den Kopf und schaute von einer Seite des Zimmers zur anderen. Es war, als könnte er kaum sehen.
»Wer ist da?«, krächzte er.
Nico hielt es nicht mehr aus. Mit sechs schnellen Schritten hatte er den Raum durchquert und kletterte durch das Fenster.
»Er ist wach!«, zischte er, als er wieder auf das steile Dach taumelte. Die Eidechsen sahen ihm und Lena nach, als sie davonliefen.
»Und anscheinend halbblind«, entgegnete Lena, während sie rannte. »Beeil dich.«
Nico folgte ihr langsamer, denn er wollte nicht auf den Schindeln ausrutschen.
Sie erreichten das Ende des Gebäudes, das an dieser
Stelle einige Fuß zum Dach des angrenzenden Hauses abfiel.
»Gib es mir«, verlangte Lena, drehte sich zu ihm um und sah die Geldbörse in Nicos Hand an. Er schloss zu ihr auf und hielt die Börse gegen die Brust gedrückt.
Nico wollte dieses Geld nicht haben. Aber er wollte auch nicht, dass Lena es bekam.
Sie griff nach der Börse, und Nico machte einen raschen Schritt zurück.
Und verlor den Halt unter dem linken Fuß.
Er fiel zur Seite, erhaschte noch einen Blick auf Lenas Hände, die verzweifelt nach ihm griffen – oder eher nach der Geldbörse – und schlug auf die Schindeln, während die Eidechsen überall um ihn herum davonstoben und ihm durch den Sturz die Luft aus der Lunge getrieben wurde. Dann rollte er das Dach hinunter bis zum Rand. Seine Beine flogen darüber hinaus und hingen über der gepflasterten Straße. Aus seiner Kehle drang ein Keuchen, und seine Finger suchten nach einem Halt, den sie nicht fanden.
Er stürzte in die Tiefe.
Nico schrie mit aller ihm verbliebenen Kraft. Mit der Schulter schrammte er an dem Wirtshausschild entlang, und sein Körper drehte sich. Nun schoss er mit dem Kopf nach unten auf eine ausgefahrene Markise zu, durchbrach sie schreiend, warf die Arme schützend vor das Gesicht, schrie noch immer, als das Straßenpflaster auf ihn zusprang und er auf einen der Tische vor der Taverne schlug.
Nico lag zusammengekrümmt inmitten der Trümmer
von Markise und Tisch, während Holz- und Farbsplitter wie Schnee auf ihn herabfielen. Nach einer Weile setzte sich eine fette alte Dame in Bewegung und half ihm; andere Gäste saßen schockiert mit ihren Chee-Tassen in der Hand, die auf halbem Weg zum Mund erstarrt waren. Nico war völlig verblüfft und konnte nicht einmal Luft holen. Er sah, dass sein Strohhut vor ihm lag. Er konnte kaum glauben, dass er noch lebte.
Er hatte großes Glück gehabt, aber die Geldbörse war ihm wohl aus den Fingern gefallen, als er das Dach herunter gerutscht war, und hatte seitdem ihren eigenen, langsameren und gewundeneren, aber ebenso unausweichlichen Weg nach unten genommen. Als sich die alte Frau bückte, prallte die Börse genau vor Nicos Gesicht auf das Pflaster, und die silbernen und goldenen Münzen verstreuten sich unter entsetzlichem Lärm und sonnenbestrahltem Glitzern auf der Straße. Die alte Frau klemmte die Hand vor den Mund. Passanten starrten das Schauspiel an. Blicke fielen auf den Jungen, auf das Geldvermögen, wanderten hoch zum Dach, und innerhalb weniger Augenblicke ertönte der Ruf.
» Dieb! «, schrien sie, während Nico noch immer so benommen war, dass er sich nicht rühren konnte. » Dieb! «, schrien sie im Chor, als er sich auf den Rücken drehte und hoch zu dem Dach starrte, von dem er soeben heruntergestürzt war. Lena war verschwunden, und nur die Sonne schaute auf sein Unglück herunter.
In seiner Verwirrtheit hoffte Nico, dass das alles nur ein Traum war, ein Alptraum, aus dem er bald erwachen würde. Aber ein Paar grober Hände schüttelten diese
Fantasie bald aus ihm heraus. Als er auf die Beine gezogen wurde, traf ihn die Wirklichkeit mit noch größerer Wucht als vorhin der gepflasterte Boden. O gütige Erēs , schrie ihm sein Verstand zu, das alles ist wirklich … das alles passiert tatsächlich!
Dann verlor er das Bewusstsein.
KAPITEL DREI
Besuche
Er hatte nie zuvor ein Gefängnis von innen gesehen und erst recht keine Nacht darin verbracht.
Es stellte sich als eine recht freizügige
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