Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
Rituale gekümmert, an denen er auf Wunsch seiner Muter hatte teilnehmen müssen und die von jenen leiernden Mönchen in dem verräucherten Tempel durchgeführt wurden, in den er hin und wieder geschleift worden war. Doch nun freute er sich auf diese einstündigen Lektionen in der stillen, mit poliertem Holz getäfelten Chachen-Halle oder draußen im Innenhof, wenn das Wetter gut war. Hier ging es kaum um Religion, wie er schnell herausgefunden hatte, denn die Rō̄schun scherten sich nicht um Glaubenssätze. Sie knieten
einfach dort, legten die Hände in den Schoß und konzentrierten sich auf das sanfte Ein- und Ausströmen ihres Atems, bis eine Glocke das Ende der Lektion verkündete.
Nico fand heraus, dass die vollkommene Reglosigkeit einfacher zu erreichen war, wenn er sich entspannte und gleichzeitig konzentrierte. Danach fühlte er sich immer erfrischt und im Einklang mit sich selbst; ihm war wohler in seiner Haut.
Viele Wochen vergingen, bevor ihm der Gedanke kam, einen Brief nach Hause zu schreiben. Nico war es peinlich, dass er seine Mutter so schnell vergessen hatte. In seiner unsauberen Handschrift ließ er sie wissen, dass es ihm gutging, und den Rest der Seite füllte er mit einem Bericht über die alltäglichen Aspekte seines neuen Lebens. Sorgfältig ließ er alles aus, was darauf hätte hindeuten können, wie verzweifelt manche Situationen gewesen waren.
Aschs alter Freund Kosch übernahm gern die Zustellung und nahm den Brief sowie einige weitere Rō̄schun in den Hafen von Cheem mit, wo er und die anderen Vorräte kaufen wollten. Dort würde der Brief einem Schmuggler übergeben werden, der davon lebte, die mhannischen Blockaden der Freien Häfen zu unterlaufen. Nico hoffte, dass das Schreiben seine Mutter erreichen würde. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er eingestehen, dass er nicht mehr oft an sie dachte.
An jedem Narrentag hatten sie frei und durften tun und lassen, was sie wollten. Wenn sich die anderen an
solchen Tagen zu Gruppen von zwei oder drei Jungen zusammenschlossen, überließ Nico sie ihrem Geplänkel und ihren kleinen Dummheiten und machte sich zu einer Wanderung durch das Gebirge auf, in dessen hoher und klarer Pracht er wundervolle Stunden verbrachte. Für ihn war es köstlich, allein mit seinen Gedanken zu sein, die an solchen Tagen und nach einer genügend langen Wanderung eigentlich Nicht-Gedanken waren, wie zu seiner Kinderzeit, als er sich zusammen mit seinem Hund Kumpel für einen Nachmittag in das Vorgebirge gewagt hatte. Es war eine Zeit des Friedens und eine Möglichkeit gewesen, Ruhe zu finden.
Diese Routine hinterließ tiefe Spuren in ihm. Eine Zeit lang blickte Nico weder zurück noch nach vorn.
Eines Morgens sah Nico vor dem Frühstück, wie ein Mädchen den Hof durchquerte, und war so verblüfft darüber, dass er seinen Wassereimer fallen ließ. Was Nico so sehr erschreckte und sein Herz in Raserei versetzte, war einfach der Umstand, dass sie ein weibliches Wesen war; keineswegs war seine Reaktion ihrem äußeren Erscheinungsbild zuzurechnen. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid, das zu ihrem Haar passte, welches ihr lang und glatt bis auf den Rücken fiel und ein sonnengebräuntes Gesicht mit scharfen Linien und großen Augen einrahmte. Es war eher die Art, wie sie sich bewegte: langbeinig, selbstbewusst und mit einer schwebenden Anmut unter ihrem Kleid, die seinen männlichen Blick
fesselte, der so etwas lange nicht mehr gesehen hatte. Nico vergaß seinen Eimer und hastete hinter ihr her. Er beobachtete, wie sie durch die Tür zum Nordflügel trat. Rasch überlegte er sich eine Entschuldigung, die es ihm erlaubte, ihr zu folgen und herauszufinden, wer sie war.
Nico eilte durch die Tür und spähte nach links und rechts. Sie war verschwunden. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er sie sich nur eingebildet hatte.
Während der nächsten Tage sah er sie mehrfach wieder. Aber jedes Mal erhaschte er nur einen flüchtigen Blick auf sie, und es geschah immer, wenn er gerade trainierte oder auf dem Weg zum Unterricht war und keine Zeit hatte. Es war frustrierend, und bald ertappte er sich dabei, dass er andauernd die Blicke schweifen ließ und nach ihr Ausschau hielt.
»Wer ist sie?«, fragte er Aléas eines Abends beim Essen.
»Wer?«, fragte Aléas zurück und verriet sich durch einen gespielten unschuldigen Tonfall.
»Du weißt schon! Das Mädchen, das ich andauernd hier sehe.«
Aléas schenkte ihm ein wölfisches Grinsen. »Das ist nicht
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