Farmer, Philip Jose - Flusswelt 03
»Die Leute erzählen sie stets zum Spaß, aber ursprünglich waren sie durchaus ernst gemeint. Hier ist eine andere: Nasreddin hatte auf dem Rücken seines Esels sehr oft die Grenze von Persien nach Indien überquert. Jedes Mal trug der Esel dabei große Strohbündel mit sich. Jedes Mal untersuchten die Zöllner Nasreddin mit peinlicher Genauigkeit, ohne jedoch feststellen zu können, ob er etwas schmuggelte. Die Zöllner fragten ihn jedes Mal, was in aller Welt seine zahlreichen Reisen in das Nachbarland zu bedeuten hätten, woraufhin der Mullah lächelte und ihnen stets die gleiche Antwort gab: >Ich schmuggle.<
Viele Jahre später, als Nasreddin sich in Ägypten niederlassen wollte, kam einer der Zöllner zu ihm und sagte: >Na gut, Nasreddin. Ich verspreche dir, dich nicht anzuzeigen, aber sag mir, was du die ganzen Jahre über geschmuggelt hast.<
Und seine Antwort war: >Esel.<«
Erneut brachen die Zuhörer in Gelächter aus, und Frigate sagte: »Die gleiche Geschichte habe ich in Arizona gehört. Nur war der Schmuggler ein gewisser Pancho, und er überquerte die Grenze von Mexiko nach den Vereinigten Staaten.«
»Ich nehme an, daß alle Geschichten derart alt sind«, sagte Tom Rider schleppend. »Vielleicht haben die Höhlenmenschen sie sich schon erzählt.«
»Vielleicht«, nickte Nur. »Aber es ist überliefert, daß all diese Geschichten schon bei den Sufis bekannt waren, ehe Mohammed auf die Welt kam. Sie wurden geschaffen, um die Leute zu lehren, die Muster ihrer Denkweisen zu ändern, auch wenn sie in sich selbst amüsant sind. Natürlich werden sie von den Meistern ausschließlich während des ersten Stadiums des Lernens angewandt.
Auf jeden Fall sind diese Geschichten seit ihrer Entstehung in der ganzen Welt bekannt geworden. Es war ziemlich amüsant für mich, einige davon in Irland wiederzufinden, wo man sie sich auf Gälisch erzählte. Allein durch mündliche Überlieferung hatte Nasreddin es geschafft, in zwei Jahrtausenden von Persien bis ins Abendland vorzustoßen.«
»Wenn die Sufis sie schon vor der Geburt Mohammeds erfunden haben«, sagte Frigate, »müssen sie am Anfang Zoroastrier gewesen sein.«
»Der Sufismus ist kein Monopol des Islam«, führte Nur aus. »Er wurde zwar hauptsächlich von Moslems weiterentwickelt, aber jeder, der an Gott glaubt, kann Sufi-Kandidat werden. Die Sufis neigen allerdings dazu, ihre Lehrmethoden der jeweiligen lokalen Kultur anzugleichen. Was für persische Moslems in Khorasan gut ist, muß nicht auch unbedingt für schwarze Moslems im Sudan gut sein. Und die Unterschiedlichkeit in der Effektivität würde noch größer sein, wenn man sie auf Pariser Christen anwendet. Der Ort und die Zeit bestimmen die Lehre.«
Später vertraten Nur und Frigate sich noch ein wenig an Land die Beine. Sie kamen an einem großen Lagerfeuer vorbei und passierten eine Gruppe Draviden, die sich unterhielten. »Welche Methode würdest du entwickeln, um deine Lehre auf dieser Welt zu verbreiten? Die Leute hier entstammen allen Kulturen und Zeiten, und monolithische Kulturen gibt es so gut wie gar nicht mehr. Und diejenigen, die es noch gibt, sind einem ständigen Wechsel unterworfen.«
»Ich arbeite noch daran«, sagte Nur.
»Dann ist also einer der Gründe, weshalb du mich nicht als Jünger akzeptieren willst, die Tatsache, daß du dich als Lehrmeister noch nicht für reif genug hältst?«
»Du kannst dir damit den Rücken stärken, wenn du willst«, erwiderte Nur lachend. »Aber ja, das ist einer der Gründe. Wie du siehst, müssen auch Lehrer sich ständig selbst etwas beibringen.«
49
Graue Wolken schwebten durch das Schiff und füllten jeden Raum.
Sam Clemens sagte: »Oh, nein – nicht schon wieder!«, aber er hatte keine Ahnung, weshalb er das tat. Der Nebel drückte nicht nur gegen die Kabinendecken und setzte sich in allem fest, das in der Lage war, ihn zu absorbieren, sondern drängte sich auch in seine Kehle und umschloß sein Herz, das von Wasser durchnäßt wurde. Tropfen fielen von seinem Herzen ab und tröpfelten in seinen Bauch hinein, sammelten sich in seinen Lenden, brachten sie zum Überlaufen, plätscherten an seinen Beinen hinab und benetzten seine Füße.
Eine namenlose Angst, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte, hielt ihn in den Klauen.
Er war allein auf der Brücke. Allein im ganzen Schiff. Er stand hinter den Kontrollen und blickte aus dem Fenster, gegen das der Nebel drückte. Er konnte durch den Kunststoff kaum mehr als eine Armeslänge
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