Farmer, Philip José - Flusswelt 05
abgewandert.
Eines Nachts wurde er in seiner Hütte von einem maskierten, verkleideten Mann geweckt. Der Fremde war derjenige, der auch Burton und viele andere ins Leben zurückgerufen hatte, um sich ihrer Hilfe seiner Sache zu versichern. Von den vielen, die der abtrünnige Ethiker Loga rekrutiert hatte, war Li Po einer der wenigen gewesen, die den Turm erreichen sollten.
»Und was hast du während deines Aufenthalts hier gelernt?« hatte Nur gefragt. »Hat es sich für dich zum Besseren oder zum Schlechteren verändert, wenn überhaupt?«
»Im Gegensatz zu dir, mein moslemischer, aber orthodoxer Freund, habe ich nicht an ein Jenseits geglaubt. Ich war mit Dem Weisen einer Meinung - das Land der Geister hat uns nichts zu kümmern. Als ich starb, dachte ich, mein Fleisch würde verfaulen und zu Staub zerfallen, und das sei es gewesen. Das Erwachen am Fluß war ein großer Schock, der schlimmste meines Lebens. Wo waren die Götter, die mich von den Toten erweckt hatten, die Götter, an die ich nicht geglaubt hatte? Es gab keine Götter oder Dämonen hier, nur Menschen wie mich, die - wenn auch in einer anderen Welt - nicht mehr über das Warum und Wohin wußten, als sie auch auf der Erde gewußt hatten. Arme Teufel! Arme Unwissende, die in der Dunkelheit herumstolperten. Wo waren diejenigen, die unser Licht noch einmal angezündet hatten, damit wir kleine Flammen sein konnten, die nach der großen Mutterflamme suchten?«
»Wo ist der Schnee von gestern?« sagte Frigate. »Leicht zu beantworten. Er schmolz, wurde zu Wolken und dann wieder zum Schnee von heute.«
Am Ende seiner Wanderungen auf der Erde und der Flußwelt hatte Li Po den Turm erreicht. Er schien sich nicht verändert zu haben, was laut Nurs Auffassung bedauerlich war. Die Flußwelt war dazu geschaffen, Veränderungen in den Menschen zu bewirken. Der große, schlanke, stattliche, teufelsgesichtige Mann mit den grünen Augen und dem schwarzen, zu einem Knoten gebundenen Haar lachte nur darüber.
»Perfektion kann sich nur zum Schlechteren hin verändern.«
Er hatte sein Quartier neu eingerichtet, damit es wie der Palast des Ruhmreichen Kaisers aussah. Aus den Computerunterlagen hatte er viele berühmte chinesische Gemälde reproduziert und auch eigene Bilder gemalt: keine Duplikate seiner irdischen Schöpfungen, sondern Szenen von der Flußwelt.
»Ich habe alles, was der Kaiser hatte, und noch viel mehr. Bis auf die Millionen Untertanen und die vielen Frauen und Konkubinen natürlich. Ich habe nicht eine einzige Frau, daher bin ich eigentlich ärmer und elender als der niedrigste Bauer. Aber nicht für lange.«
Es gab eine Frau, von denen die Historiker nichts wußten, obwohl Li Po zweihundert Gedichte über sie geschrieben hatte (die allerdings zu seinen neuntausend verlorenen Werken zählten).
Im östlichen Lu, einem Teil Shantungs im nördlichen China des zwanzigsten Jahrhunderts, hatte Li Po neben einem Gasthof, der der Familie seiner vierten Frau gehörte, ein Haus gebaut. Und in dem Gasthof gab es ein Sklavenmädchen, das den Besuchern zu Diensten war. Ihr Name war Hsing Shih, Sternen-löffel.
»Die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Alice, Aphra, ihr werdet mir verzeihen, wenn ich das sage. Ihr beide seid wirklich überwältigend schön, aber da ihr für euer Geschlecht sehr aufrichtig seid, werdet ihr sicherlich mit mir übereinstimmen, daß ihr vielleicht nicht die Allerschönsten seid.
Sternenlöffel war still und eindringlich. Sie hatte elegante Manieren, die in diesem Gasthof ziemlich fehl am Platze waren und von den Kunden nicht entsprechend gewürdigt wurden. Sie war kein Bauernmädchen. Ihre Mutter war eine Konkubine des ruhmreichen Monarchen gewesen, und Sternenlöffel galt als seine Tochter. Diese Vaterschaft wurde jedoch in Frage gestellt, als Ster-nenlöffels Mutter in Unkeuschheit mit einer Palastwache überrascht wurde. Die Mutter und ihr Liebhaber wurden geköpft, und Sternenlöffel, damals neun Jahre alt, an einen wohlhabenden Händler verkauft. Als sie zehn war, nahm er sie zu sich ins Bett. Als er ihrer überdrüssig wurde, vergnügten sich seine sechs heranwachsenden Söhne mit ihr. Als der Kaufmann sein Vermögen verlor und kurz darauf starb, wurde Sternenlöffel an meinen Schwiegervater, den Besitzer des Gasthofes verkauft. Sie wurde seine Konkubine, und sie wurde verhältnismäßig gut behandelt, obwohl sie im Gasthof arbeiten mußte. Nachdem ich die Tochter des Besitzers geheiratet hatte, lernte ich
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