Farmer, Philip José - Flusswelt 05
waren dreimal so hell wie die echten. In dieser strahlenden Nacht sah sie eine schlanke Gestalt über eine Lichtung gleiten. Ein Jaguar. Und sie hörte das Bellen von Alligatoren.
Der Wind kühlte sie ab und bauschte ihre Robe auf, als sie zu dem großen See im Zentrum des Dschungels flog. Sein Wasser funkelte um den treibenden Palast in der Mitte. Sie hatte ihn aus dem Gedächtnis nach einer Erscheinung rekonstruiert, die sie auf einer Überfahrt von Antwerpen nach London gesehen hatte. Wie von Zauberhand dorthin gesetzt, war sie plötzlich vor dem Schiff aufgetaucht und hatte alle an Bord in Angst und Schrecken versetzt. Das magische Gebäude war rechteckig, vier Stockwerke hoch, aus verschiedenfarbigem Marmor gebaut und umgeben von mehreren Reihen geriffelter, reich verzierter Säulen mit Kletterpflanzen, sowie Blumen und in der Brise flatternder Fahnen. Jede Säule war mit Hunderten von kleinen Kupidos verziert, die sie mit Hilfe schlagender Schwingen zu erklimmen schienen.
Jeder an Bord des Schiffes hatte den Palast gesehen. Woher war er gekommen? Wenn es sich um eine Luftspiegelung gehandelt hatte, welches Gebäude zeigte sie? Es gab nirgendwo in England oder auf dem Kontinent einen dermaßen phantastischen Rokoko-Palast.
Diese unerklärliche Vision hatte sie ihr restliches Leben auf der Erde und später auch auf der Flußwelt verfolgt. Aphra hatte den Computer gebeten, nach einer Erklärung zu forschen, aber die Suche hatte nur zu einem Verweis auf ein Phänomen in der Biographie John Gildons geführt. Dieses posthume Werk hatte wegen seiner Ungenauigkeit und Lügen sowohl ihr Interesse als auch ihren Abscheu erregt. Daraufhin hatte sie über alle verfügbare Literatur zum Thema gebeten und Montague Summers’, Bernbaums und Sackville-Wests Darstellungen gelesen. Diese Autoren hatten in erster Linie versucht, die Wahrheit von der Phantasterei und Übertreibung zu trennen und waren allesamt gescheitert. Man konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Die offiziellen Aufzeichnungen und Dokumente über sie waren knapp, und der Versuch, ihren Romanen, Stücken und Gedichten historische Fakten zu entnehmen, war hoffnungslos.
Aphra wußte, oder hatte erfahren, daß sie die Tochter des Barbiers James Johnson aus Canterbury war. Ihre Mutter war ein paar Tage nach Aphras Geburt gestorben, und sie, ihre Schwester und ihr Bruder waren von Verwandten adoptiert worden, John und Amy Amis. Weder sie noch die Amis’ konnten natürlich ahnen, daß das kleine Mädchen eines Tages die erste Engländerin sein würde, die vom Schreiben lebte, daß eins ihrer Gedichte noch Jahrhunderte später in Anthologien erscheinen und ein Roman als kleiner Klassiker überdauern würde.
Ihr erfolgreiches Eindringen in die bis dato nur von Männern bestimmte Welt der Literatur hatte viele schockiert und vor den Kopf gestoßen. Den tiefsten Schock empfanden die männlichen Schriftsteller und Kritiker. Ihre Vorurteile, rachsüchtigen Bemerkungen und Winkelzüge machten Aphra wütend, und sie zahlte es ihnen - mit Recht - in gleicher Münze heim. Sie erlitt jede Unbill und sämtliche Schleudersteine und Fadenkreuze des Pioniers, aber sie ebnete den Weg für eine Reihe von Frauen, die sich ihren Lebensunterhalt mit der Feder verdienten.
Als Kind war sie nervös, phantasievoll und oft krank gewesen. Trotzdem überlebte sie eine harte und gefährliche Sechstausend-Meilen-Reise über den Atlantik - nach Surinam, eine englische Besitzung im nördlichen Südamerika. Ihr Adoptivvater, John Amis, war dieses Glück nicht beschert. Er starb en route, als Opfer eines »Fiebers«. Durch den Einfluß eines Verwandten, Lord Wil-loughby of Parham, war er zum Generalleutnant ernannt worden. Trotz des Verlustes ihres Vaters genoß Aphra das Leben und kostete alle Möglichkeiten des exotischen Landes aus. Hier traf sie auch einen schwarzen Sklaven, der seinem Stamm in Westafrika geraubt und nach Surinam gebracht worden war. Die
Geschichten über seine Heimat und seine dortige gehobene Position, ob sie nun stimmte oder nicht, bildeten die Quelle des romantischen Romans, den sie Jahre später schreiben sollte, Orunoko, oder Der königliche Sklave.
»Dies waren die glücklichsten Jahre meines Lebens. Es war immer Frühling, immer April, Mai und Juni. Die Bäume trugen gleichzeitig Blätter und Früchte aller Reifestufen. Es gab Haine mit Orangen, Limonen, Zitronen, Feigen, Muskatnüssen und edlen aromatischen Pflanzen, die ständig Wohlgerüche ausstrahlten.
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