Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
für die Polizei wichtig sein könnte.«
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Den Abend nach dem Banküberfall verbringt Banklehrling Werner Siegrist auf dem Kriminalkommissariat. Er ist der einzige Augenzeuge. Stundenlang werden ihm Dutzende von Tatverdächtigen vorgeführt, allesamt große, mittelgroße, halbkleine und wirklich kleine junge Burschen, aber keiner kommt als Täter in Frage. Der kleine Haitz hingegen hat das Glück, dass ihn die Polizei nicht brauchen kann, da er nichts oder fast nichts gesehen hat. Er sitzt im Kino und sieht sich zum siebenten Mal »King Kong« an.
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Tagesrapport Kriminalkommissär IV Hoffmann: »Es haben zweifellos beide Täter Schüsse abgefeuert. Sicher ist, dass der größere Unbekannte auf den Lehrling Siegrist einen Schuss abgefeuert hat, als dieser sich flüchtete, ihn aber nicht getroffen hat. Da dieser Täter auf den verschwundenen Siegrist nicht weiter schießen konnte, dürfte er sich unverzüglich an den anderen Schalter begeben und dort auf Beutter und Kaufmann noch 1–2 Schüsse abgefeuert haben. Sein Komplize muss auf die Genannten auch wenigstens 3 Schüsse abgegeben haben.«
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Nach Ladenschluss spazieren Dorly, Waldemar und Kurt ein letztes Mal den Rhein entlang. Es ist jetzt nicht mehr so kalt wie im Dezember. Der sibirische Nordwind hat sich nach Norden zurückgezogen; der vertraute Nordwestwind treibt feuchte Meeresluft von den Britischen Inseln heran, und es riecht nach nasser Schafwolle. Auf dem Rhein wird das Eis dünner, bricht und treibt der Nordsee zu. Die Schleppkähne hupen reiselustig, die Matrosen lauschen besorgt dem Blubbern der Dieselmotoren, ob der Frost nicht etwa Schaden angerichtet habe. Dorly, Waldemar und Kurt laufen über die Mittlere Brücke – Dorly und Waldemar wie immer nebeneinander, Kurt irgendwo voraus oder hinterher oder auch mal auf gleicher Höhe. Weiter geht es geradeaus, bis am Ende der Greifengasse das kupfergrüne Glockentürmchen der Klarakirche auftaucht.
»Schon oft hatte Velte vorgeschlagen, zu dritt eine Kirche zu besuchen, was Sandweg und ich stets abgelehnt hatten. Diesmal aber gab er nicht klein bei, also betraten wir die Klarakirche. Wir setzten uns alle drei nebeneinander in die vorderste Bank rechts des Mittelgangs und schwiegen. Ob Sandweg und Velte gebetet haben, kann ich nicht sagen; jedenfalls haben wir geschwiegen. Velte vergrub das Gesicht in den Händen, schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück und schien ganz in sich versunken, während Sandweg und ich warteten, bis es genug sei. Nach etwa einer halben Stunde hielt es Sandweg nicht mehr aus, und er drängte zum Aufbruch. Velte aber war nur mit großer Mühe zum Weggehen zu bewegen. Endlich wieder im Freien, gingen wir über die Mittlere Brücke und dann die Freie Straße hoch zum Centralbahnhof, wo Sandweg die Abfahrtszeiten der Züge nach Südfrankreich notierte. Hernach begleiteten sie mich nach Hause. Unterwegs wiederholte ich meinen vorgängig vorgebrachten Wunsch, einmal ihre vollständigen Namen zu erfahren. Früher war mir die Vorzeigung der Pässe unter allerlei Ausflüchten verweigert worden. Diesmal bestand ich darauf mit dem Hinweis, dass man doch einen Menschen oder eine Sache nur wirklich kenne, wenn man ihn oder sie mit wahrem Namen benennen könne. Das beeindruckte insbesondere Velte, und schließlich vor unserem Haus bequemten sich die beiden, mir ihre Pässe zu zeigen. Ich merkte mir die Namen, Heimatorte und Geburtsdaten, weil ich die beiden ins Herz geschlossen hatte. Deshalb war ich in der Lage, dieselben bei meiner ersten polizeilichen Abhörung genau anzugeben, ohne dass ich sie notiert hatte.
Am folgenden Tag trafen wir abmachungsgemäß um 13 Uhr auf dem Marktplatz zusammen. Die beiden führten mich zur Pension Furrer und sagten, sie müssten noch etwas holen. Entgegen ihrem Ansuchen verzichtete ich darauf, mit ins Zimmer zu gehen, und wartete vor der Pension. Als sie zurückkamen, trug Sandweg zwei Koffer, Velte eine Reisetasche und das Reisegrammophon. Am Bahnhof löste Sandweg Billetts, zeigte sie aber nicht und sagte, die Reise gehe über Pontarlier/Lyon nach Marseille. Velte sagte, er werde mir von Marseille aus berichten, wohin sie ihr Abenteuer weiter führe.
Die Abreise war für 14.50 Uhr vorgesehen. Da wir aber alle drei in ein Gespräch vertieft waren, verpassten wir den Zug und hielten uns bis zur Abfahrt des nächsten Zuges um 16.05 Uhr im Wartesaal 2. Klasse auf. Dann bestiegen die beiden den auf dem IV. Perron
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