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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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stehenden Zug und fuhren via Delémont davon. Ich lief dann sofort nach Hause und ging auf mein Zimmer, ohne die Mutter zu begrüßen, da ich erschüttert war. Ich war der festen Überzeugung, dass ich Sandweg und Velte nicht wiedersehen würde.«

12
    Am achten Januar 1934 schreibt Waldemar Dorly eine Ansichtskarte aus Lyon.
    »Lb. Dorly! In aller Eile herzl. Grüße aus Lyon von Deinem Freund Waldemar. Sind gerade im Zug nach Marseille. Brief folgt. Mein Freund Kurt grüßt ebenfalls herzl.«
     
    Im Globus ist die Hektik des Weihnachtsgeschäfts vorbei, jetzt ist die Zeit des Umtauschens da. Dorly nimmt die Schallplatten entgegen, die da den Weg zurück zu ihr finden: das große Wagner-Album, das ein Gymnasiast errötend gegen drei ganz schlimme Jazz-Platten eintauscht; die Préludes von Chopin, die ein junges Mädchen für etwas Spitzenunterwäsche hergibt; George Gershwins Rhapsody in Blue, die ein älterer Herr gegen Bachs Goldberg-Variationen eintauscht. Und gelegentlich kommt es vor, dass das junge Mädchen die Tochter des älteren Herrn ist und der Gymnasiast ihr Bruder und dass sich alle gegenseitig Schallplatten zu Weihnachten geschenkt haben; womöglich verpassen die drei einander nur um ein paar Minuten, wodurch ihnen eine peinvolle Familienzusammenkunft erspart bleibt. Dorly schweigt diskret und hört sich murmelnd vorgetragene Lügengeschichten an; sie berechnet Preisdifferenzen und Lieferfristen, stellt Gutscheine aus und packt ein, und nach Feierabend verlässt sie das Geschäft durch den Personalausgang und geht vorbei an der Litfaßsäule, an der jetzt niemand mehr wartet. Die Abende sind lang zu Hause, wenn die Mutter Stunde um Stunde an ihrer Handarbeit sitzt und das Ticken der Wanduhr das einzige Geräusch ist.
    Am zwölften Januar trifft ein Brief aus Südfrankreich ein. Sie wird ihn drei Wochen später einem Reporter von der »National-Zeitung« überlassen, damit der endlich Ruhe gibt.
     
    »Marseille, 10. Januar 1934. Liebe Dorly, wir sind wieder zurück in Marseille! Unsere Reise ist und bleibt ein unglückseliges Unterfangen. An der spanischen Grenze hat uns ein goldbetresster Operettenzöllner die Einreise verweigert, weil ihm unsere Papiere nicht passten. So haben wir umkehren müssen und noch mal durch diese Operettenlandschaft von einem Südfrankreich reisen, das mit seinen Palmen, Rebbergen, Luxushotels und Wildpferden genauso aussieht, wie sich deutsche Pensionisten Südfrankreich vorstellen.
    Und jetzt also wieder Marseille. Immerhin bin ich nun wieder etwas näher bei Basel und bei Dir, liebe Dorly. Kurt ist in diesem Augenblick unten am Hafen und schaut sich Schiffe an. Er mag Schiffe. Ich schreibe Dir hier auf der Sonnenterrasse eines Kaffeehauses, und es ist schon fast ein bisschen Frühling. Wir müssen jetzt überlegen, wie es weitergehen soll – noch einmal die Einreise nach Spanien versuchen, eine andere Route wählen? Die Lust auf die Reiserei ist mir in letzter Zeit so recht abhandengekommen. Schließlich, wozu sich abmühen? Die ganzen Scherereien um Pässe und Visa und Transitgenehmigungen und Fahrpläne, dieses ewige Geldwechseln – Mark in Francs, Francs in Franken, Franken wieder in Francs, Francs in Peseten, Peseten in Francs, ohne Ende – mit welchem Resultat? Mit der Erkenntnis, dass die Welt eine einzige Festung ist. Ein Gefängnis, ein Alcatraz ohne Fluchtmöglichkeit. Da müsste man schon eine Mondrakete zur freien Verfügung haben, ein Zeppelin ist da nicht viel besser als eine Schwebebahn.
    Wer reicher ist als Kurt und ich oder auch gerissener und rücksichtsloser, der schafft es vielleicht nach Spanien und sogar noch weiter, aber es bleibt doch immer eine Flucht von einer Gefängniszelle in die andere, von Zelle Frankreich nach Zelle Spanien, und dahinter folgt immer die nächste Zelle, Marokko, Libyen, Ägypten, Indien und so weiter. Das ist mir jetzt klar. Wenn man wirklich fliehen möchte und nicht einfach nur davonlaufen von einer Zelle in die nächste, dann müsste man weiter gehen, viel weiter – bis zu den letzten weißen Flecken auf der Landkarte, die es immer irgendwo gibt. Aber weiße Flecken haben geradeeben die Eigenart, dass sie unerreichbar sind. Sonst wären sie nicht weiß.
    Liebe Dorly, alle reden von Amerika. Aber sag, was soll ich dort? Kürzlich habe ich in der Zeitung von den sogenannten Court-Restaurants in Chikago gelesen, wo feine Leute sich den Nervenkitzel leisten, zur gleichen Stunde mit einem Hinzurichtenden im gleichen Haus

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