Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
Wever-Bank.
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Samstag, dreizehnter Januar 1934. Dorly muss Überstunden abbauen und darf nicht zur Arbeit gehen. Das kommt ihr ungelegen, denn im Globus verginge die Zeit schneller als zu Hause bei der Mutter. In drei Stunden wird es genau eine Woche her sein, seit Kurt Sandweg und Waldemar Velte abgereist sind. Da schellt im Flur die elektrische Glocke. Dorly und ihre Mutter haben kein eigenes Telefon, aber sie dürfen gegen ein geringes Entgelt jenes der Familie Herzog im dritten Stock benützen. Erst kürzlich hat Dorly das Läutewerk im Flur einrichten lassen, damit die Herzogs sie ohne unnötiges Treppenlaufen ans Telefon rufen können.
Dorly steigt die Treppe hoch. Sie wird nicht oft angerufen. Meist sind es Arbeitskolleginnen, für die sie einen freien Tag opfern soll. Aber diesmal ist Waldemar am Apparat. »Velte sagte mir, sie seien wieder in Basel. In Spanien habe man sie auch in einem zweiten Anlauf nicht einreisen lassen, da sie kein Visum hätten vorzeigen können. Dieses müssten sie jetzt in Berlin einholen. Wir verabredeten uns für 14 Uhr beim Brausebad. Dann gingen wir spazieren wie gewohnt.«
13
»Fräulein Dorly, wo ist eigentlich in Basel der Friedhof?«
»Es gibt mehrere. Sehr berühmte Leute werden im Münster beigesetzt.«
»Und normale Menschen?«
»Auf dem Hörnli-Friedhof. Der ist aber weit weg. Immer flussaufwärts bis zur deutschen Grenze.«
»Wollen wir hingehen?«
»Nein, das wollen wir nicht!« Kurt Sandweg dreht sich heftig um und hebt die flache Hand wie ein Verkehrspolizist. »Nicht wahr, Fräulein Dorly, das wollen wir nicht?«
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»Es war dies das erste Mal, dass ich Sandweg so aufbrausend erlebte. Da aber Velte von seinem Wunsch, den Hörnligottesacker zu besichtigen, nicht abzubringen war, führte ich die beiden hin. Wir liefen lange zwischen den Grabreihen hindurch, das Hörnli ist ja der größte und modernste Friedhof der Schweiz. Mir fiel auf, dass Sandweg ungewöhnlich beklommen schien, während Velte aufgeregt und fröhlich war. Er zeigte großes Interesse für alle möglichen Grabsteine, blieb stehen und las Sandweg und mir Grabinschriften vor. Manche fand er sehr lustig, so dass er lachen musste und sich kaum mehr beruhigen wollte. Einmal sagte er, am Hörnli möchte er begraben sein, dann wäre er mir immer nahe.«
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Am sechzehnten Januar 1934 befreien Bonnie Parker und Clyde Barrow unter Einsatz von Maschinengewehren die Gangster Ray Hamilton und Henry Methvin aus der Eastham Prison Farm, Texas. Dabei erschießt Clyde einen Wärter, der ihre Flucht zu verhindern sucht.
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Kurt und Waldemar nehmen ihren Basler Alltag wieder auf. Mittags besuchen sie Dorly im Globus und kaufen eine Schallplatte; den Nachmittag verbringen sie auf ihrem Zimmer und spielen auf dem Reisegrammophon eine Platte um die andere ab; bei Anbruch der Dunkelheit nehmen sie in ihrem Stammlokal, dem Restaurant »Markthalle« beim Centralbahnhof, ein frühes Abendessen ein. Bei Ladenschluss stehen sie auf dem Marktplatz an der Litfaßsäule und warten auf Dorly, und dann gehen die drei am Rhein spazieren. Das geht so am Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Auch der Freitag, neunzehnter Januar, folgt dieser Routine – aber nur bis um achtzehn Uhr dreiundzwanzig.
Zu diesem Zeitpunkt ist Detektivkorporal Hans Maritz auf Zivilstreife am Centralbahnhof unterwegs. Er hat sich vor den Fahrkartenschaltern in der längsten Schlange angestellt, um unauffällig nach zwei jungen Burschen Ausschau zu halten, von denen der eine etwas größer ist als der andere und die entschlossen scheinen, aufs Ganze zu gehen. Maritz gilt »dank seinem Spürsinn als einer der besten baslerischen Kriminalbeamten«, wie Pfarrer Hans Baur eine Woche später bei der Totenfeier am Hörnli es ausdrücken wird. Einem aufmerksamen Beobachter würde auffallen, dass Maritz als einziger in der ganzen Bahnhofshalle ein Hemd mit altmodischem Stehkragen trägt. Maritz ist kinderlos verheiratet und fünfundvierzig Jahre alt, ältester Sohn eines Monteurs am Basler Gaswerk, gelernter Mechaniker, seit zwanzig Jahren Polizist und Oberschützenmeister der Polizeischützen. Immer weiter rückt er in der Schlange vor. Als er vor dem Fahrkartenschalter steht und die Reihe an ihm wäre, schert er aus und geht hinüber zum Kiosk. Dort bemerkt er »… zwei verdächtige Individuen, auf die das Signalement der Wever-Bankräuber hätte zutreffen können und von denen der größere eine Tafel
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