Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
nach den Festtagen unterrichtete er an der Grundschule wie stets, er leitete die Proben des Männerchors wie gewohnt, nahm wie üblich teil an Partei- und Gemeindeversammlungen, den Trainings des Fußballclubs und des Turnvereins – aber er machte einen großen Bogen um die Post und das Restaurant »Zur Traube«. Und Marie Stifter? Die blieb eisern in ihrem Zimmer – eine Woche, zwei, drei Wochen lang – und ließ sich nicht blicken, auch nicht an Heiligabend, an Weihnachten oder an Silvester.
Am Abend des vierten Januar beschloss Postmeister Stifter, dass es genug sei. Er holte seinen Sonntagsanzug aus dem Schrank, steckte sich eine Zigarre an und stapfte quer durchs Dorf, um mit dem alten Schulmeister Walder ein Wörtchen zu reden. Schließlich habe dessen Ernst vor der Post lauthals um die Hand seiner Marie angehalten, und was denn nun los sei. Der alte Schulmeister wiegte den Kopf und gab sich diplomatisch; von einem formellen Heiratsantrag könne seines Wissens keine Rede sein, und er müsse erst Rücksprache mit dem Junior nehmen. Darauf brüllte der Postmeister: »Komm, komm, jetzt mach keine Fisimatenten! Das ganze Dorf hat deinen Jungen gehört, wie er vor meinem Haus rumgebrüllt hat!« Gleichzeitig begann er sich zu verfärben, worauf der alte Schulmeister rasch einlenkte. Die pekuniären Einzelheiten hatten sie rasch geregelt. Als Hochzeitstag wurde der dritte Samstag nach Ostern bestimmt. Darüber hinaus wurde verabredet, dass Ernst am nächsten Mittag auf der Post seine Aufwartung machen solle und dass er wiederum rote Rosen mitbringen werde, diesmal aber nicht dreizehn, sondern siebenundzwanzig Stück, als Zeichen der Sühne. Marie wurde im Gegenzug verpflichtet, das Fenster zu öffnen und Ernst freundlich zuzuwinken, sobald er auf zwanzig Schritt heran wäre, und wenn irgend möglich, sollte sie ihm eine Kusshand zuwerfen. Dann würden die beiden einen Spaziergang machen. Der Postmeister und die Postmeisterin würden währenddessen ihren Mittagsschlaf halten und sich nicht blicken lassen.
Zu einer Kusshand konnte sich Marie nicht durchringen, aber ansonsten geschah es genau wie ausgemacht. Während in Basel hektisch nach zwei Bankräubern gefahndet wurde, staksten Marie und Ernst über Wiesen und Felder, schlugen mit Knochen, Stiefeln und Schirmen gegeneinander und redeten, damit geredet war. Beide waren grimmig entschlossen, den anderen zu besiegen, das heißt, ins Unrecht zu setzen; in diesem Wettstreit würde derjenige verlieren, der als erster seinen Groll offenbarte und die längst fällige Auseinandersetzung vom Zaun brach. Und weil ums Verrecken keiner von beiden nachgeben wollte, endete ihr Spaziergang entsetzlicherweise hinter dem Haus des Postmeisters mit einem Kuss, bei dem sie übrigens mit den Zähnen gegeneinanderschlugen. Von jenem Augenblick an galten sie formell als verlobt.
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In der Schalterhalle der Wever-Bank wird vermessen und fotografiert, verhört und stenographiert und gezählt und gezeichnet. Banklehrling Werner Siegrist erzählt wieder und wieder alles, was er weiß. »Zweifellos hatten sich die Täter vor Begehung des Überfalles im Schalterraum der Bank Wever & Cie umgesehen, die Verhältnisse ausspioniert. Es war ihnen möglich durch den Umwechsel fremder Devisen oder anlässlich der Erkundigung nach dem Kurs fremder Währungen. Genau orientiert waren die Täter aber nicht, ansonsten sie nicht das Silbergeld, sondern das in der Nebenschublade vorhandene Papiergeld im Betrage von einigen tausend Franken entwendet haben würden. Aus der Schublade, die das Papiergeld enthielt, wurde nichts entwendet, obwohl dieselbe nicht abgeschlossen war.«
Kurz vor elf Uhr werden Jacques Beutter und Arnold Kaufmann im Basler Bürgerspital operiert. Prokurist Beutter hat laut polizeilicher Aktennotiz zwei Schusswunden. »Eines der Projektile ist ihm ins Gesäß gedrungen, das zweite unter dem rechten Arm hindurch durch den ganzen Oberkörper und hat die tödlichen Verletzungen an der Luft- und Speiseröhre verursacht. Der junge Kaufmann dagegen hat einen Schuss zu verzeichnen, der ihm quer durch den Kopf gegangen ist.« Beutter stirbt auf dem Operationstisch, Kaufmann zwölf Stunden später auf der Intensivstation.
11
Kurz vor elf Uhr erscheint die Morgenausgabe der Basler »National-Zeitung«. »Banküberfall an der Elisabethenstraße!« ruft der Zeitungsjunge über den Marktplatz. Eine junge Frau, die in jeder Hand einen großen Korb Gemüse trägt, kauft ihm drei
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