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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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nicht, obwohl der Bub monatelang gebettelt und gebettelt hat. Aber letzten Donnerstag hat dann der Fähnleinführer vor der Tür gestanden. Ganz streng hat er mich angeschaut und wissen wollen, warum Lothar immer noch in Räuberzivil zum Dienst komme.«
    »Was hast du geantwortet?«
    »Dass unser Baugeschäft schlecht läuft und dass wir kein Geld hätten. Und weißt du, was das Bürschchen gemacht hat? Hat mich frech von oben bis unten gemustert und gesagt: ›Ach ja! Aber für Sie hat’s gerade noch gereicht, wie?‹«
    Waldemar steht auf und legt ein Scheit ins Feuer.
    »Lass den Kleinen in Ruhe, ja?« sagt die Mutter. »Weißt du, es sind jetzt alle dabei, wirklich alle. Du solltest sie sehen, wenn sie am Samstag aus der Stadt und in den Wald marschieren.«
    »Ja, ich weiß. Die Kolonnen, die glänzenden Augen, die Trommeln und Fanfaren. Die Lieder, die Fahnen.«
    »Langweilig wird denen nie bei all den Ausflügen und Zeltlagern und Märschen und Abendkursen. Und Lothar ist auch schon viel kräftiger geworden.«
    Waldemar steht auf. »Du entschuldigst mich bitte, Mama. Kurt und ich gehen morgen früh noch mal auf Reisen.«
    »Schon wieder? Wohin?«
    »Mit dem Rheindampfer nach Königswinter und weiter an den Felsensee. Ein paar Freunde zelten da und erwarten uns.«
    »Zelten? Im November?«
    »Das macht uns nichts aus.«
    »Waldemar?«
    »Ja?«
    »Hast du dich letzthin nach Arbeit umgesehen?«
    »Wir haben in der Industrie vierzig Prozent Arbeitslosigkeit, Mama. Und die paar freien Stellen sind für Parteimitglieder reserviert.«
    »Dann geh doch zum Arbeitsdienst.«
    Waldemars Schwester Hilde hat das Gespräch still mitverfolgt. An die letzten Worte ihres Bruders wird sie sich das ganze Leben erinnern. »Nein, nein und immer wieder nein. Ins Arbeitsdienstlager Marscheider Wald vielleicht? Zum Holzschlagen im Dienst der Volkswohlfahrt? Ich werde diesen Verbrechern nicht auch noch helfen.«
    Im Morgengrauen des nächsten Tages schleicht Waldemar die Treppe hinunter, das lederne Reiseköfferchen in der rechten Hand. Die Mutter liegt wach und lauscht seinen Schritten. Der Bruder liegt wach und lauscht seinen Schritten. Die Schwester liegt auch wach und lauscht. Waldemar geht durchs Eingangsportal, dessen Rahmen aus mächtigen, roh behauenen Felsblöcken besteht. In die Blöcke eingelassen ist über der Tür ein kreisrundes, bleigefasstes Fenster von etwa einem Meter Durchmesser, welches ein Wappen enthält. Vater Veltes Felsenfestung, seine uneinnehmbare Trutzburg, die er der Familie gebaut hat als Zuflucht vor der Welt – aber jetzt muss die Welt nur einen pubertierenden Fähnleinführer schicken oder einen nach Zwiebeln stinkenden Konkursbeamten, und schon sind Weib und Kind schutzlos wie die Hasen auf dem Feld.
    Waldemar läuft die steil ansteigende Straße hoch. Oben an der Kreuzung steht Kurt. Auch er hat sein ledernes Köfferchen bei sich. An dieser Kreuzung ist Waldemar vor ein paar Monaten verprügelt worden, weil er »Guten Tag« sagte, statt auf die staatlich verordnete Weise zu grüßen. Als er sich am Boden krümmte, hat ihm ein Volksgenosse den Pistolenlauf in den Mund gesteckt, und zwei andere, die er noch vom Gymnasium her kannte, haben sich links und rechts neben ihm hingekniet und ihm »Volksfeind! Volksfeind!« in die Ohren gebrüllt. Den Geschmack von Waffenöl hatte er noch Tage später im Mund.
    Waldemar Velte und Kurt Sandweg laufen hinunter zur Schwebebahn. Dass sie keinen Moment daran denken, am Felsensee zu zelten, ist klar.
     
    *
     
    Hilde Velte hat immer und immer wieder über die große Reise ihres Bruders nachgedacht: »Ich glaube, die wollten nach Amerika oder nach Indien. Wir hatten einen Onkel, der als Ingenieur auf einer Teeplantage arbeitete. Da wollten Kurt und Waldemar hin. Die haben es nicht mehr ausgehalten zu Hause. Mein Bruder war ein ernster Mensch, fröhlich, aber auch schwermütig. Der hat viel gelesen, Nietzsche und Schopenhauer. Das wird ihn auch nicht grad aufgeheitert haben. Einmal wollte er sich sogar so einen mächtigen Schnurrbart stehen lassen, aber da ist nicht viel gewachsen. Als dann das mit den Nazis anfing, war er richtig verzweifelt. Kurt hingegen war ein sonniges Gemüt. Der ist wohl einfach mit Waldemar mitgegangen, weil er sein bester Freund war. Der war ein Sonntagskind. Der wäre überall glücklich gewesen. Egal wo.«
     
    *
     
    Eine Reise nach Indien aber ist ein kompliziertes Unterfangen, seit nach dem Großen Krieg die Beamten die Macht

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