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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Polarmeer an. Üblicherweise zieht er um diese Jahreszeit hoch im Norden westwärts bis nach Grönland. Im Advent 1933 aber bog er schon in Russland südwärts ab; eine Kältewelle von bis zu minus zweiunddreißig Grad Celsius rollte über Bulgarien, Ungarn und Jugoslawien nach Frankreich. In Sofia, Budapest und Belgrad erfroren die Obdachlosen zu Dutzenden. In Paris setzte kräftiger Schneefall ein.
    Am siebenten Tag steigen Waldemar und Kurt an der Gare de l’Est in den Schnellzug nach Basel und nehmen nebeneinander in einem Abteil dritter Klasse Platz, unzertrennlich wie stets. Ins Gepäcknetz über ihren Köpfen legen sie ihre zwei Reiseköfferchen und, als einziges Andenken an Paris, ein aufziehbares Reisegrammophon. Die Fahrt wird acht Stunden dauern. Von der Landschaft werden sie wenig sehen, denn nach wenigen Kilometern sind die Fenster bedeckt von millimeterdickem Farn aus Frost.
     
    *
     
    »Homosexuell? Da kennen Sie die aber schlecht, besonders den Kurt. Wenn je ein Mann auf Erden die Mädchen gemocht hat, dann der. Und sie ihn auch, übrigens. Ich war selbst ein bisschen verliebt in ihn, wenn er auch für mich viel zu alt war. Vor Waldemar haben sich halt viele Mädchen gefürchtet, weil er so ernst war. Aber dass die beiden ein inniges Verhältnis zueinander hatten, das stimmt schon. In den letzten Monaten haben Kurt und Waldemar ja rund um die Uhr zusammengesteckt. Die haben eigentlich zusammen gewohnt: mal ein paar Tage bei uns, dann ein paar Tage bei Sandwegs, dann wieder bei uns. Unsere Eltern haben das nicht sehr gern gesehen, denn es war ja schon ein bisschen seltsam. Aber was sollte man machen. Und den Kurt mochten wir alle gern. Der war wie ein Familienmitglied.«

6
    Meine Großeltern mütterlicherseits sind geboren, aufgewachsen und haben ihr ganzes Leben verbracht in einem Dorf im Basler Hinterland, das sich weitab vom Stadtlärm zwischen die letzten sanften Ausläufer des Jura schmiegt. Die Gegend ist berühmt für ihren Kirschenschnaps, und von den Hügeln aus hat man eine schöne Aussicht nach dem Elsass im Westen und in den Schwarzwald im Norden. Wenn Deutschland und Frankreich gerade wieder im Krieg miteinander standen, rollte der Geschützdonner über die Berge, und nachts konnte man das Wetterleuchten der Mündungsfeuer sehen. Leibhaftige fremde Soldaten aber waren im Basler Hinterland seit den Napoleonischen Kriegen keine mehr aufgetaucht.
    Mein Großvater hieß Ernst Walder und war der älteste Spross einer wohlhabenden Bauernfamilie, die seit 1848 nebenbei auch das Amt des Dorfschulmeisters innehatte. Mitte der zwanziger Jahre hatte er seinen Vater als Schulmeister abgelöst, weil dieser die ewig gleichbleibende Unwissenheit der Dorfkinder nicht mehr ertrug. Im Lauf der Jahre hatte Ernst vom Vater nacheinander auch das Präsidium des Männerturnvereins übernommen, den Dirigentenstab des katholischen Gesangsvereins und den Sitz im Gemeinderat, der der Familie seit Jahrhunderten zustand. Zu der Zeit, da diese Geschichte spielt, war er zudem Mittelfeldspieler beim Fußballclub, Chef des örtlichen Zivilschutzes und ein beliebter Grabredner – darüber hinaus groß, kräftig, gutaussehend, dreiunddreißig Jahre alt und ledig.
    Großmutter war sieben Jahre jünger, drall und rund und blond und einzige Tochter einer ebenso wohlhabenden Bauernfamilie, die seit Menschengedenken nebenbei die Post und das Restaurant »Zur Traube« führte. Marie Stifter konnte Klavier spielen und hatte in Lausanne Französisch gelernt, und früher oder später würde sie eine beträchtliche Menge Bauland erben.
    Ernst Walder und Marie Stifter waren im Dorf die attraktivsten Heiratskandidaten ihrer Generation, und zwar mit Abstand – gutgewachsene Sprösslinge zweier alteingesessener Familien, die nicht allzu sehr miteinander verschwägert waren und bisher noch keinerlei Skandal heraufbeschworen hatten. Für das ganze Dorf war klar, dass die beiden füreinander bestimmt waren, und ihnen selbst scheint das auch klar gewesen zu sein, wenngleich auf seltsam freudlose, pflichtbewusste Art. Zwar holte er sie Sonntag für Sonntag zum Spaziergang ab, dann gingen sie Arm in Arm über die Felder; zwar tanzte er am Dorffest ausschließlich mit ihr und sie nur mit ihm; zwar machte er regelmäßig seine Aufwartung auf der Post und in der »Traube«; zwar stand sie hinter dem gegnerischen Tor, wenn der Fußballclub ein Spiel hatte, und vor der Abendunterhaltung des Turnvereins schmückte sie mit den anderen

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