Fast genial
An der Grenze mussten sie über eine Stunde anstehen, die
Schlange war endlos. Francis betrachtete das Fahndungsplakat an der Wand.
Darauf waren sechzig vom fbi gesuchte Schwerkriminelle abgebildet, und Nummer
einundzwanzig sah genauso aus wie der Typ, der ihnen in Tijuana die Tür
geöffnet hatte. Der Mann mit der Glatze und dem Ohrring, bei dem sein Vater als
Untermieter lebte. Er war Kolumbianer und wurde wegen Rauschgifthandel und
Menschenschmuggel gesucht, und Francis war fast überrascht, dass er nicht auch
noch ein mehrfacher Mörder war.
Er dachte an die Familie Doblinski, deren Männer
seit Generationen nur Mist bauten und die ihre Loser-Gene dennoch so früh wie
möglich weitergaben. Sie pflanzten sich alle bereits als Teenager fort, und am
besten wäre es, wenn er selbst sich sofort sterilisieren ließe, um dem ganzen
Spuk endlich ein Ende zu bereiten.
Vor ihnen in der Schlange stand ein mexikanisches
Ehepaar. Sie durften nicht über die Grenze, sosehr sie auch bettelten, die
Mutter weinte, ihre Kinder seien bereits drüben, aber sie durfte trotzdem nicht
rüber. In diesem Moment wurde Francis bewusst, dass Tijuana eigentlich nicht zu
Mexiko gehörte, sondern mit all seinen Schattenseiten noch zu ihnen. Es war der
Rattenschwanz der usa , und dann begriff er, dass ja auch in ihm das Blut einer
Einwandererfami lie
floss. Sie kamen an die Reihe. Die Grenzbeamten kontrollierten ihre Pässe und
stellten ihnen ein paar Fragen, nach ein paar Minuten wurden sie durchgewunken.
Als sie zum Parkplatz gingen, versank die Sonne am Horizont. Francis wollte
sich gerade in den Chevy setzen, da sah er die Akte über seinen Vater, die noch
immer auf dem Beifahrersitz lag. Für einen Moment war er durch diesen Anblick
wie gelähmt. Dann nahm er sie und schmiss sie in einen Mülleimer, und wortlos
fuhren sie Richtung Osten.
Es war schon spät, als sie im Motel eincheckten.
Francis schlief schlecht und hatte wieder Alpträume. Mitten in der Nacht
schreckte er hoch und hörte Geschrei. Im Raum nebenan stritt ein Paar so laut,
dass er nicht mehr einschlafen konnte. Er stand auf und zog sich an. Beim
Verlassen des Zimmers warf er noch einen Blick auf Grover und Anne-May, die
friedlich schlafend in ihren Betten lagen wie... wie normale Menschen.
Er dagegen war vor Jahrzehnten bei minus 196 Grad in
flüssigem Stickstoff gelagert worden, eine von mehreren Ampullen mit Iwan
Doblinskis beliebtem Exportartikel. Er fragte sich, ob seine Mutter damals
zwischen Dr. Doble und den anderen Superspendern, etwa Alistairs Vater, geschwankt
hatte. In dem Fall war seine Zeugung tatsächlich nichts anderes als Russisch
Roulette gewesen, und sie hatte unter all den potentiellen Genievätern leider
den Treffer erwischt, der sein Vater war.
Nicky war auf normale
Weise gezeugt worden und hatte zwei richtige Eltern. Seinem Bruder fiel alles
so leicht, er hatte einfach ein kindliches Urvertrauen in das Leben, und mit seiner warmherzigen Art konnte er Menschen für sich
einnehmen und wurde von ihnen geliebt. Er selbst hingegen hatte das nie
gekonnt. Von Anfang an war er misstrauisch gewesen, als hätte er geahnt, dass
er aus dem Eis kam und nur am Leben war, weil ein dubioser Arzt auch Jahrzehnte
nach dem Krieg seine kranken Versuche mit Kindern durchgeführt hatte und ein
Milliardär größenwahnsinnig geworden war.
Er und die anderen Kinder waren von Irren in die
Welt gesetzt worden, dachte Francis plötzlich, von zwei Wahnsinnigen, die
geglaubt hatten, man könne Genies wie Tiere oder Pflanzen züchten. Und nun
bezahlten sie alle den Preis für diese unglaubliche Dummheit mit ihren verkorksten
Leben.
Francis hatte das Gefühl, gleich zu ersticken. Er
wankte nach draußen, setzte sich auf die Feuerwehrtreppe und fing an zu lachen,
obwohl ihm danach gar nicht zumute war. Er lachte, weil er vor kurzem noch die
Hoffnung gehabt hatte, dass durch die Samenbank der Genies und seinen genialen
Vater alles endlich doch noch eine Bedeutung bekommen hatte. Aber nun war alles
noch viel sinnloser. Alles, alles,
alles!
Francis musste an seine vielen Halbgeschwister
denken, die über das ganze Land verstreut waren und die er niemals kennenlernen
würde. Und er dachte an Alistair und die anderen aus dem Kältetank. Ein paar
übriggebliebene Laborratten aus einem längst gescheiterten Experiment. Eigentlich
waren sie nichts anderes als Replikanten. Sie sahen aus wie echte Menschen,
redeten und fühlten wie echte Menschen, und doch waren sie
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