Faszination Menschenfresser
ist noch nicht vollständig geklärt. Sehr wahrscheinlich dient es jedoch dem Wal als Tauchhilfe, da es den Auftrieb regelt und dem Tier so das kontrollierte Absinken in große Tiefen ermöglicht. Umgeben von einer Hülle, die so zäh ist, dass auch die schärfste von Menschenhand geschleuderte Harpune wirkungslos bleibt, erfüllt das Spermaceti-Organ aber noch eine weitere Aufgabe: Es verleiht dem Kopf des Wals eine solche Stabilität, dass dieser im Kampf als Waffe genutzt werden kann. »Es ist so, als wäre die Stirn des Pottwals mit Pferdehufen gepflastert«, schreibt Melville, wohl wissend, dass in zahlreichen gut dokumentierten Fällen Pottwale ihre Stirn offenbar bewusst, gezielt und effektiv als Rammbock gegen Schiffe eingesetzt haben. Ein wütender Pottwal war durchaus in der Lage, mit seiner massiven Stirn auch ein größeres Segelschiff zu rammen und dabei dessen Planken so zu zerstören, dass es nicht mehr gerettet werden konnte.
Mit der Einführung von Metallrümpfen an Schiffen sank das Risiko für Walfänger nahezu auf null. Im Gebiet der Kanarischen Inseln ist es in den letzten Jahren immer wieder zu – wenn auch unbeabsichtigten – Zusammenstößen zwischen Großwalen und Schiffen gekommen. Spanischen Zeitungsberichten zufolge wurde 1999 sogar ein zehn Meter langer Fischkutter von einem Pottwal versenkt.
Es gibt nur wenige Geschichten aus dem Alten Testament, die so bekannt sind wie die vom Propheten Jona und dem Wal. Die berühmte »Verschlingungsstory« ist schnell erzählt: Jona entzieht sich dem göttlichen Auftrag, die Stadt Ninive vor dem Untergang zu warnen, durch die Flucht über das Meer. Erzürnt entfacht Gott einen gewaltigen Sturm, durch den das Schiff in Seenot gerät. Jona wird durch das Los als Verantwortlicher entlarvt, bekennt seine Schuld und lässt sich ins Meer werfen. Und dann passiert das, was in Jona 2.1–11, wie folgt zu lesen ist: »Und der Herr bestellte einen großen Fisch, Jona zu verschlingen; und Jona war drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches. Und Jona betete zum Herrn, seinem Gott, aus dem Bauch des Fisches … und der Herr befahl dem Fisch, und er spie Jona auf das Trockene aus.«
Während im modernen Christen- bzw. Judentum die Geschichte von Jona und dem Wal, die Verschlingung und Rettung Jonas als Symbol für den Tod und die Auferstehung Jesu gesehen wird (»Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Schoß der Erde sein«, Matthäus 12,40), so glauben Bibelfundamentalisten vor allem im Land der unbegrenzten Möglichkeiten fest daran, dass sich die Geschichte tatsächlich so abgespielt hat wie im Alten Testament beschrieben. Befragt man Experten, bekommt man aber relativ einmütig zu hören, dass fast alle bekannten Wal- bzw. Fischarten schon rein anatomisch nicht dazu in der Lage sind, einen ausgewachsenen Menschen »auf einen Happen« zu verschlucken. So haben z. B. die größten Wale überhaupt, die sogenannten Furchenwale – eine Walfamilie, zu der auch das größte Tier der Erde, der Blauwal gehört – einen so engen Schlund, dass ihnen bereits ein Fisch von der Größe eines Herings Erstickungsanfälle bescheren würde. Zudem ernähren sich Furchenwale vorwiegend von Plankton.
Auch Walhaie kommen als biblische Menschenverschlinger nicht infrage. Die mit einer Länge von bis zu 15 Meter größten Fische der Welt verfügen zwar über ein gewaltiges Maul, der Schlund dieser Fische, die sich ebenfalls hauptsächlich von Kleinstlebewesen ernähren, ist jedoch mit einem Durchmesser von gerade mal zwölf Zentimetern deutlich zu eng.
Pottwale sind mit einer Länge von 18 Metern und mehr die größten Vertreter der sogenannten Zahnwale. Ob sie allerdings dazu in der Lage sind, einen ganzen Menschen zu verschlingen, ohne ihm Verletzungen zuzufügen, ist umstritten. Zu wenig ist über das Fressverhalten dieser gewaltigen Meeresräuber bekannt.
Noch zwei weitere Tatsachen lassen die Wissenschaft an der biblischen Verschlingungsstory zweifeln. Zum einen ist der Sauerstoffgehalt im Verdauungstrakt eines Pottwals mit Sicherheit so gering, dass ein Mensch dort wohl kaum 72 Stunden überleben könnte, und zum anderen wäre da auch immer noch der tödliche Einfluss der überaus aggressiven Verdauungssäfte zu beachten, denen das Opfer über einen längeren Zeitraum ausgesetzt wäre.
All diese Erkenntnisse der modernen Wissenschaften kontern bibelfeste Christen vor allem in den
Weitere Kostenlose Bücher