Faszination Menschenfresser
Walfangbooten in die Enge getriebenen Waldame zu Hilfe eilen wollte. Anderen Berichten zufolge hat der gefürchtete Pottwalbulle aber noch weitere 20 Jahre den Pazifik unsicher gemacht, bevor im Jahre 1859 dem eigentlich als unbesiegbar geltenden Riesen von einem schwedischen Walfänger endgültig der Garaus gemacht wurde. Zu diesem Zeitpunkt war der »Schrecken der Ozeane« allerdings bereits heftig vom Alter gezeichnet und angeblich auf einem Auge blind, sodass er nicht mehr in der Lage war, sich zur Wehr zu setzen. In seinem narbenübersäten Körper steckten 19 Harpunen. Mit einer Länge von angenommenen 28 Metern war »Mocha Dick« nahezu anderthalbmal so groß gewesen wie ein normaler Pottwal.
Und wie wurde Mocha Dick zu Moby Dick? Historiker glauben, dass Melville den Namen wahrscheinlich änderte, um zum einen die unglaubliche Mobilität des sagenhaften Pottwals zu unterstreichen und zum andern, um eine Assoziation der Farbe Mokka (= engl. mocha) mit seinem schneeweißen Wal zu verhindern. Und noch eine weitere wahre Geschichte inspirierte Melville zu seinem Walfang-Epos: Der Untergang des Walfangsegelschiffs Essex im Jahr1820 , der zu seiner Zeit genauso spektakulär und mythenumwoben war wie die Titanic -Katastrophe 100 Jahre später.
Begonnen hat alles in Nantucket. Die Insel vor der Ostküste der USA war damals das Zentrum des amerikanischen Walfangs. Von hier aus starteten im 19. Jahrhundert mehr Walfangschiffe in die Weltmeere als von allen anderen Häfen zusammen. Und von hier aus machte sich 1819 auch das Walfangschiff Essex auf den langen und beschwerlichen Weg in den Pazifik, um Pottwale zu jagen. Am 20. November1820 , kaum 40 Seemeilen südlich des Äquators, kam es dann zu einer schicksalhaften Begegnung mit einer Herde Pottwale: Die Walfänger sahen sich, anstatt reiche Beute zu machen, schnell in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt. Einer der harpunierten Wale attackierte nämlich die Fangboote, die daraufhin die Jagd abbrechen und zur Essex zurückkehren mussten. Das eigentliche Drama stand jedoch noch bevor: Noch ehe die Bootsbesatzungen wieder an Bord gehen konnten, tauchte ein riesiger Pottwal auf und attackierte die Essex . Ein »85 Fuß langes«, männliches Tier, den gewaltigen Kopf »von Narben übersät«, wie der Kabinensteward Nickerson, der den großen Pottwal als Erster sah, später zu Protokoll gab.
Ohne zu zögern schwamm der gewaltige Meeressäuger mit hoher Geschwindigkeit direkt auf das Schiff zu und krachte mit voller Wucht in die Backbord-Seite des Segelschiffs. Das 238-Tonnen-Schiff wurde durch den Aufprall derart durchgeschüttelt, dass es die Besatzung regelrecht von den Beinen riss. Nach einer kurzen Atempause attackierte der offensichtlich außer Rand und Band geratene 80-Tonner aus Fleisch und Blut das Schiff erneut und brach nach einem Anlauf von mehreren Hundert Metern direkt in den Bug der Essex . »Ich sah ihn aus etwa 40 Fuß Entfernung noch zweimal schneller als vorher auf uns zuschießen, wie von Sinnen vor Wut und Rachegelüsten«, notierte der Oberbootsmann der Essex , Owen Chase, der die Geschichte vom Untergang später in einem Augenzeugenbericht veröffentlichte. Der Angriff war so heftig, dass der Wal das Schiff nicht nur stoppte, sondern mit kräftigen Flossenschlägen sogar noch einige Meter rückwärts schob. Erst dann löste sich der riesige Bulle vom lädierten Dreimaster und verschwand in den Tiefen des Ozeans. Ob es, wie damals oft behauptet, Mocha Dick war, der am 20. 11. 1820 die Essex attackierte und versenkte, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit klären.
Fast identisch beschreibt übrigens Melville diese gespenstische Szene rund 30 Jahre später in seinem Romanepos, als Moby Dick die Pequod mit Mann und Maus in die Tiefe schickt. Fraglos diente ihm hier die Essex -Katastrophe als Vorlage, von der er wahrscheinlich erstmals 1840 hörte, als er – selbst auf einem Walfänger unterwegs – vom Sohn des Obermaats Owen Chase eine Kopie des Augenzeugenberichts erhielt. Dieser letzte Angriff besiegelte zugleich auch das Schicksal der Essex , denn durch den Rammstoß wurden mehrere der schweren Eichenplanken des Schiffes regelrecht zersplittert, sodass große Mengen Meerwasser in die Laderäume eindrangen.
Das Schiff sank in Höhe des Äquators, rund 3700 km westlich der Westküste Südamerikas. Die 21-köpfige Besatzung rettete aus dem sinkenden Schiff neben Navigationsinstrumenten, Werkzeugen und Waffen rund 800 Liter Frischwasser
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