Fata Morgana
gestrahlt hat.«
»Vielleicht hatte Mildred einen Grund, unglücklich zu sein?«
Carrie Louise sagte leise: »Eifersucht, meinst du? Das allerdings. Aber eigentlich brauchen die Menschen keinen Grund dafür, wie sie sich fühlen. Sie sind von Natur aus so, wie sie sind. Meinst du nicht auch, Jane?«
Miss Marple musste an Miss Moncrieff denken, die buchstäblich die Sklavin ihrer tyrannischen, invaliden Mutter gewesen war. An die arme Miss Moncrieff, die sich so danach sehnte, Reisen zu machen und etwas von der Welt zu sehen. Daran, wie in ganz St. Mary Mead diskreter Jubel ausbrach, als Mrs Moncrieff zu Grabe getragen wurde und Miss Moncrieff, ausgestattet mit einem hübschen kleinen Einkommen, endlich ihre Freiheit bekam. Und daran, dass Miss Moncrieff auf ihrer ersten Reise nur bis Hyères kam, wo sie ›eine von Mutters ältesten Freundinnen‹ besuchte und dort so gerührt war vom Schicksal der ältlichen, hypochondrischen Frau, dass sie ihre Reise abgeblasen und sich in der Villa einquartiert hatte, um sich fortan schikanieren zu lassen, wie ein Pferd zu arbeiten und sich aufs Neue nach den Freuden eines weiteren Horizonts zu sehnen.
Miss Marple sagte: »Vermutlich hast du Recht, Carrie Louise.«
»Dass ich ein so sorgenfreies Leben führe, verdanke ich natürlich auch Jolly. Sie kam zu mir, als Johnnie und ich frisch verheiratet waren, und war von Anfang an einfach rührend. Sie versorgt mich, als ob ich ein hilfloses Baby wäre. Sie würde alles für mich tun. Manchmal bin ich richtig beschämt. Ich glaube wirklich, Jolly würde sogar einen Mord für mich begehen, Jane. Ist das nicht schrecklich?«
»Sie ist dir gewiss treu ergeben«, stimmte Miss Marple zu.
»Sie ist so ungehalten.« Mrs Serrocold ließ ihr silberhelles Lachen erklingen. »Wenn es nach ihr ginge, müsste ich mir ständig die herrlichsten Kleider machen lassen und mich mit allerlei Luxus umgeben, und sie findet, alle müssten mich vergöttern und mir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Sie ist die Einzige, der Lewis' Begeisterung nicht den geringsten Eindruck macht. Unsere armen Jungen hier sind in ihren Augen nichts als verwöhnte junge Kriminelle, mit denen man sich gar nicht abgeben sollte. Sie meint, das Haus sei zu feucht und schlecht für mein Rheuma und ich sollte nach Ägypten gehen oder sonst irgendwohin, wo es warm und trocken ist.«
»Macht dir dein Rheuma sehr zu schaffen?«
»Es ist in letzter Zeit viel schlimmer geworden. Ich kann kaum noch laufen. Schreckliche Krämpfe in den Beinen. Je nun« – wieder zeigte sich das bezaubernde elfenhafte Lächeln, – »irgendwie muss sich das Alter ja bemerkbar machen.«
Miss Bellever erschien in der Terrassentür und kam eilig auf sie zugelaufen.
»Ein Telegramm, Cara, gerade telefonisch durchgegeben.
Ankomme heute Nachmittag, Christian Gulbrandsen.«
»Christian?« Carrie Louise war sichtlich überrascht. »Ich hatte keine Ahnung, dass er in England ist.«
»Die Eichensuite, nehme ich an?«
»Ja, bitte, Jolly. Dann braucht er keine Treppen zu steigen.«
Miss Bellever nickte und ging zum Haus zurück.
»Christian Gulbrandsen ist mein Stiefsohn«, sagte Carrie Louise. »Erics ältester Sohn. Tatsächlich ist er zwei Jahre älter als ich. Er ist einer der Kuratoren des Instituts – der leitende Stiftungsrat. Wirklich zu dumm, dass Lewis nicht da ist. Christian bleibt fast nie länger als eine Nacht. Er ist ein äußerst viel beschäftigter Mann. Und es gibt bestimmt vieles, was sie besprechen müssten.«
Christian Gulbrandsen traf am Nachmittag noch rechtzeitig zum Tee ein. Er war ein großer Mann mit markanten Gesichtszügen und einer langsamen, methodischen Redeweise. Er begrüßte Carrie Louise mit allen Anzeichen der Zuneigung.
»Na, wie geht's denn unserer kleinen Carrie Louise? Du bist kein bisschen älter geworden. Kein bisschen.«
Die Hände auf ihren Schultern, schaute er auf sie hinab. Jemand zupfte ihn am Ärmel. »Christian!«
»Ah.« Er drehte sich um. »Ist das Mildred? Wie geht's dir, Mildred?«
»Mir geht's in letzter Zeit gar nicht gut.«
»Das ist schlimm. Das ist schlimm.«
Zwischen Christian Gulbrandsen und seiner Halbschwester Mildred bestand eine auffallende Ähnlichkeit. Sie waren fast dreißig Jahre auseinander, man hätte sie ohne weiteres für Vater und Tochter halten können. Mildred schien sich ganz besonders über sein Kommen zu freuen. Sie war erhitzt und redselig und hatte den Tag über wiederholt von »meinem Bruder«, »meinem
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