Fatal - Roman
Sein bandagierter Kopf lehnte an ihrer Brust. Bunte Lichter aus dem Fernseher flimmerten über sein Gesicht. Seine Wangenknochen lagen noch unter dem Babyspeck verborgen. Die Konturen seines Gesichts waren noch nicht fertig. Das Leben würde sie herausbilden - sein Leben, von dem sie jetzt ausgeschlossen war.
Würde er ein guter Schüler sein? Würde er immer nur Katzen lieben oder auch Hunde? Würde er viele Freunde haben? Wie würde er aussehen, wenn ihm die ersten Barthaare wuchsen? Würde er zu Partys eingeladen werden, ein begehrter Tänzer sein? Würde er es aufs College schaffen? All diese kleinen und großen Dinge, die das Leben eines Jungen ausmachten. Ihres Jungen. Nein, nicht ihres Jungen. Er war nicht mehr ihr Junge.
Der Fernseher flimmerte weiter, während sie in einen unruhigen Schlaf hinüberglitt; doch auch im Schlaf ließen die Fragen sie nicht los.
82
Die Morgendämmerung ließ auf sich warten. Es war schon nach sieben Uhr, als die winterliche Finsternis von einem eintönigen, metallgrauen Himmel abgelöst wurde. Ellen wachte langsam auf, einen Arm hatte sie um Will geschlungen. Sie blieb im Bett liegen und hörte, wie draußen auf den Gängen das Krankenhaus allmählich erwachte. Schwestern unterhielten sich über den Schneesturm, den Dienstplan und die Mutter mit dem entführten Kind auf Zimmer 302. Heute war die Journalistin selbst die Schlagzeile.
»Mama, bauen wir einen Schneemann, wenn wir nach Hause kommen?«, fragte Will.
»Aber natürlich.« Ellen zog den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke hoch. Er war fertig angezogen, nur die Schuhe fehlten. Er trug blaue Baumwollsocken vom Krankenhaus. Ellen deutete auf seine Füße. »Mein Gott, ich hab gestern Abend vergessen, deine Füße einzupacken.«
Will kicherte und sah an sich hinunter. »Du brauchst sie nicht einzupacken. Ich hab sie doch dabei.«
»Wirklich? Beweis es mir. Ich will ganz sicher sein.«
»Schau!« Will bewegte seine kleinen Zehen auf und ab. »Siehst du? Sie sind da. In den Socken drin.«
»Jetzt bin ich aber erleichtert. Weißt du, woran ich denken muss?«
»Nein.«
»An Oreo Figaro. Wenn ich das Bett neu beziehe, versteckt er sich immer unterm Bett, und dann weiß er nicht mehr, wo er ist.«
»Er findet nicht mehr raus.«
»Genau. Wir müssen ihm helfen.«
Die Krankenschwester kam mit den Entlassungspapieren herein. »Kann ich ein Autogramm haben?« Sie reichte sie Ellen zur Unterschrift. »Wie geht’s dir?«, fragte sie Will lächelnd.
»Ich hab meine Füße dabei.«
»Sehr gut. Du wirst sie noch brauchen.«
Ellen klemmte ihre Handtasche unter den Arm und unterschrieb das Formular.
»Draußen warten Reporter auf Sie. Seien Sie gewarnt.««
»Großartig.« Ellen lächelte, Will zuliebe. »Hast du gehört, Kumpel? Weißt du überhaupt, was ein Reporter ist?«
» Du bist ein Reporter!« Will wies auf sie, und Ellen schnappte sich seinen kleinen Zeigefinger und küsste ihn.
»Draußen treiben sich eine Menge Leute herum, die alle wie ich Reporter sind und ein Foto von dir machen wollen. Dürfen sie das?«
»Klar!«
»Gut. Dann gehen wir jetzt.«
»Ich will einen Schneemann bauen.«
»Wie kommen Sie nach Hause?«, fragte die Schwester.
»Ich habe mir ein Taxi bestellt. Bitte verpfeifen Sie mich nicht.«
»Keine Angst. An Ihrer Stelle würde ich das Taxi zum Hinterausgang dirigieren. Mel, unser Sicherheitsmann, kann Ihnen helfen.«
»Gute Idee. Wir warten im Geschenkeladen.«
»Geschenke!« Wills Augen wurden größer. Beide Frauen lachten.
»Weißt du schon, was Geschenke sind?«, fragte die Krankenschwester.
»Spielsachen!«
Ellen nahm ihn auf den Arm. »Danke für alles.«
»Viel Glück«, sagte die Schwester. Aus ihrem Blick sprach Mitgefühl.
Ellen war ihr und den anderen Schwestern dankbar. Aber merkwürdigerweise ging es ihr nicht schlecht. Was nur an Will lag. Wenn er bei ihr war, behielt sie den Kopf oben. Als Mutter ließ man sich nicht entmutigen.
»Gehen wir nach Hause, Mama!«
»Erst bedankst du dich bei der Schwester.«
»Danke«, rief Will.
»Gern geschehen«, sagte die Schwester.
Ellen verließ mit Will auf dem Arm das Krankenzimmer. Auf dem Gang winkte er allen Krankenschwestern zu und bedankte sich bei ihnen. Alle winkten zurück.
»Bye bye, Willie!«, rief die Schwester, die am Empfang saß.
Will verzog das Gesicht. »Ich heiße nicht Willie. Ich heiße Will.«
Sie warteten auf den Aufzug. »Sei nicht so kleinlich. Wir gehen jetzt zu den Geschenken.«
»Jaaa!«
Der
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