Fatal - Roman
die Schwester.
»Das ist eine lange Geschichte.« Ellen schüttelte den Kopf. »Jetzt will ich sehen, wie es meinem Kind geht.«
80
In Wills Behandlungszimmer hatte Ellen ein Déjà-vu-Erlebnis. Will lag mit geschlossenen Augen in einem Erwachsenenbett, in dem er wie ein Zwerg aussah. Sein Kopf war mit Mullbinden bandagiert, man hatte ihm ein Krankenhaushemd übergezogen. Eine Schwester befestigte gerade das Bettgeländer, während ein junger Doktor mit zerzaustem Haar sich auf einem Klemmbrett Notizen machte. Er begrüßte Ellen mit einem beruhigenden Lächeln.
»Keine Angst, es geht ihm gut«, sagte er. Ellen hätte beinahe einen Jubelschrei ausgestoßen.
»Was sagt das Röntgenbild?« Ellen ging zum Bett und drückte Wills Hand, die sich kalt anfühlte. Seine Augenlider waren bläulich, irgendwie furchterregend.
»Er hat keinen Schädelbruch. Kinderknochen sind zum Glück noch sehr elastisch. Die Wunde hinterm Ohr haben wir genäht.«
»Und wie geht es seinem Herzen?«
»Alles okay. Wir kriegen alles wieder hin. Es geht ihm jetzt gut. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen. Ich würde ihn aber gern noch hierbehalten, um ihn über Nacht beobachten zu können.«
»Natürlich. Besser, wir gehen auf Nummer sicher. Ich kann doch hierbleiben?«
»Ja. Er bekommt sein eigenes Zimmer, mit einer Liege für Sie.«
»Wunderbar.« Ellen sah hinunter zu Will. »Er schläft fest.«
»Ich habe ihm ein leichtes Sedativum gegeben. Er wird bis morgen früh durchschlafen.«
»Vielen Dank.« Ellen zog sich einen Stuhl ans Bett. »Er hat heute schreckliche Dinge erlebt. Menschen sind vor seinen Augen getötet worden. Und in den nächsten Wochen wird sich sein Leben vollkommen verändern. Vielleicht gibt es einen Psychologen, der ihm bei« - Ellen schnürte es fast die Kehle zusammen - »diesem Umbruch helfen kann.«
»Ich werde unserem Sozialarbeiter Bescheid sagen.« Der Arzt berührte sie leicht an der Schulter und wandte sich zur Tür. »Passen Sie auf sich auf. Wir sagen es Ihnen, sobald wir ein Zimmer für ihn haben.«
»Danke. Könnten Sie dem Mann im Wartezimmer sagen, dass es dem Jungen gut geht?«, fragte Ellen die Krankenschwester.
»Aber nur, weil’s Sie sind. Ich mag ihn nicht.«
Ellen streichelte Wills Hand. Sein Atem ging schwer. Seine Nase war verstopft.
Ellen schloss die Augen, um ihn besser atmen zu hören.
Es war das schönste Geräusch, das sie je gehört hatte.
81
Zwei Stunden später lag sie neben Will auf einem Krankenhausbett. Der Fernseher im Zimmer lief ohne Ton und zeigte Bilder von ihrem Haus. DOPPELMORD - DRA-MA UM EIN KIND war da in roten Lettern zu lesen, und
die Laufschrift am unteren Bildrand gab weitere Informationen.
Überfall auf Ellen Gleeson in Narbeef. Täter versucht, sie und Adoptivsohn zu töten. Kind ist in Wahrheit Entführungsopfer Timothy Ravermark, Sohn milliardenschwerer Eltern aus Miami.
Ellen sah zum Fenster hinaus. Hinter den beschlagenen Scheiben wirbelte der Schnee. Im Krankenhaus war es ruhig. Nur ab und zu hörte sie das Tuscheln der Krankenschwestern im Gang. Die Tür stand halb offen, die Welt schien weit weg zu sein. Jetzt waren sie und Will wieder da, wo alles begonnen hatte, in einem Krankenhaus. Der Kreis hatte sich geschlossen. Ob sie sich aber je wieder von ihm trennen könnte? Ob das überhaupt möglich war? Sie wollte nicht daran denken, solange der Schnee das Gebäude, die Stadt und die ganze Welt mit seiner weißen weichen Schutzschicht bedeckte.
Irgendwo da draußen war Marcelo. Er hatte versucht, sie anzurufen. Aber sie hatte das Blackberry ausgeschaltet. Im Krankenhaus war die Benutzung von Handys verboten. Sie wollte mit Will allein sein.
Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Vater, der immer noch in Italien war. Morgen, wenn sie nach Hause kam, würde sie ihn anrufen. Aber wie sollte sie ihm das Unsagbare mitteilen? Es würde ihm das Herz zerreißen, wenn er wüsste, dass er sich für immer von Will verabschieden musste.
Er ist Will. Er gehört zu uns.
Sie dachte auch an Connie, die Will so gern hatte. Sie würde den Verlust ebenso wenig verschmerzen wie Ellen selbst, denn sie liebte ihn, wie er sie liebte. Kein »See you
later, alligator« mehr, für immer vorbei. Und wer würde Will helfen, diese schreckliche Situation zu meistern? Er hatte in drei Jahren drei verschiedene Mütter gehabt. Vielleicht gab es einen Psychologen, der sich um ihn kümmern konnte.
Will rührte sich ein wenig in ihren Armen, er atmete jetzt gleichmäßig und tief.
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