Fatal - Roman
Tochter. Und dass Will adoptiert ist - alle haben es vergessen, niemand denkt mehr daran. Das spricht doch Bände.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Ellen dankbar.
Dann dachte sie daran, dass ihr Vater immer ein guter Verkäufer gewesen war. Er konnte jedermann ein X für ein U vormachen.
13
Ellen zog die Eingangstür hinter sich zu. Endlich wieder zu Hause! »Wie geht es ihm?«, fragte sie Connie mit gedämpfter Stimme.
»Er lässt sich nicht unterkriegen. Um zwei Uhr habe ich ihm Tropfen gegeben.« Connie sah auf die Uhr. »Seit vier schläft er.«
»Hat er etwas gegessen?« Ellen zog ihren Mantel aus, während Connie sich fertig machte. Schichtwechsel.
»Hühnersuppe und Cracker, dazu ein Gingerale ohne Kohlensäure. Wir haben eine ruhige Kugel geschoben. Er
wollte im Bett bleiben. Nach dem Mittagessen habe ich ihm vorgelesen, bis er müde wurde.«
»Vielen Dank.«
»Keine Ahnung, wie viel er davon mitgekriegt hat. Er lag die ganze Zeit ruhig da.« Connie zog den Reißverschluss ihres Mantels zu und holte ihre Einkaufstasche.
»Der Arme.«
»Gib ihm einen Kuss von mir.«
Die beiden Frauen verabschiedeten sich. Da Will erst vor Kurzem eingeschlafen war, hatte Ellen genügend Zeit, das zu tun, was ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, seit sie ihren Vater verlassen hatte. Sie streifte die Stiefel ab und hastete nach oben.
Anderthalb Stunden später kauerte sie, über ihre Fleißaufgabe gebeugt, im Schneidersitz auf ihrem Bett. Eine Lampe aus mundgeblasenem Glas beleuchtete schwach das Babyfoto und das mit dem Computer bearbeitete Bild von Timothy Braverman. Daneben lag ein Stapel mit zehn Fotos von Will. Sie hatte diejenigen herausgesucht, auf denen man seine Gesichtszüge am besten erkennen konnte. Oreo Figaro saß wie eine Sphinx neben ihr. Er hielt Kriegsrat mit sich selbst.
Ellen legte Wills Fotos chronologisch geordnet in zwei Reihen nebeneinander. In der oberen Reihe waren die Fotos vom ersten Jahr nach der Adoption, also von eineinhalb bis zweieinhalb Jahren; in der unteren die von zweieinhalb Jahren bis heute. Sie studierte den Wandel seines Gesichts, verfolgte, wie aus einem kranken, mageren Wesen ein kräftiger Junge wurde. Es war, als sähe sie dem Öffnen einer Sonnenblume zu. Als könnte sie beobachten, wie sich die Blüte erwartungsvoll dem Licht entgegenstreckte.
Sie wandte sich wieder der ersten Reihe zu und nahm das älteste Foto heraus. Es zeigte ihn mit ungefähr eineinhalb an Halloween; er trug ein Flanellhemd und einen Overall und saß neben einem riesigen Kürbis. Plötzlich fiel ihr Susan Sulaman wieder ein.
Es war eine Woche vor Halloween. Lynnie wollte sich als Fisch verkleiden.
Sie schüttelte die Erinnerung ab, denn sie wollte sich auf die Bilder konzentrieren. Sie hielt Wills Halloween-Foto und das des einjährigen Timothy nebeneinander. Es war ein Schock.
Die beiden Babygesichter ähnelten einander so sehr - man hätte die Jungen für eineiige Zwillinge halten können. Ihre blauen Augen besaßen den gleichen Farbton, sie hatten die gleiche Größe und Form; auch die Nasen waren identisch. Sie hatten das gleiche schiefe, schelmische Lächeln mit dem nach oben gezogenen rechten Mundwinkel, und sie saßen beide in einer für Kinder dieses Alters ungewöhnlichen Haltung kerzengerade da. Kein Wunder, dass Sarah und ihr Vater die beiden miteinander verwechselt hatten. Ellen hielt die Fotos näher zur Lampe und bekam eine Gänsehaut. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, aber was sie sah, war nicht von der Hand zu weisen.
Sie legte die Fotos zurück; jetzt war die zweite Reihe mit den neueren Bildern dran. Sie sah sich das aktuellste Foto an: Will auf der vorderen Veranda sitzend, am ersten Kindergartentag. In seinem neuen grünen T-Shirt, der kurzen grünen Hose und den grünen Socken sah er aus wie ein Baumkobold.
Wieder hielt sie das mit dem Computer bearbeitete Bild von Timothy neben das von Will. Die beiden glichen einander
fast aufs Haar, auch wenn das Foto von Timothy nur schwarz-weiß war. Sie hatten die gleichen runden, weit auseinanderstehenden Augen, und ihr Lächeln war immer noch ähnlich, genauso wie der Gesichtsausdruck. Der einzige kleine Unterschied bestand in der Haarfarbe. Timothys Haar wurde als hellblond beschrieben, während Wills Haar dunkelblond war.
Ellen legte die Fotos beiseite, doch dann wollte sie noch etwas anderes ausprobieren. Sie nahm Timothys Babyfoto und hielt es neben das Kindergartenfoto von Will. Man hätte glauben können,
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