Fatal - Roman
Danach legte sie ihn wieder zurück. Ein zartes und blasses Kind, das noch nicht einmal die obere Hälfte des Bettes einnahm, lag da in seiner weißen Unterwäsche vor ihr. Sie deckte ihn behutsam zu.
»Keine Bücher, Mama.«
»Okay. Wie wär’s, wenn wir stattdessen ein bisschen kuscheln? Rutsch rüber.« Ellen machte das Licht aus und legte sich zu ihm ins Bett. Sie drückte ihn an ihre Brust und legte die Arme um ihn. »Ist das nicht schön?«
»Nein, es kratzt.«
Ellen lächelte. »Das ist mein Pulli. Jetzt erzähl mir, wie es dir geht. Tut dir der Hals weh?«
»Ein bisschen.«
Ellen war nicht übermäßig besorgt, sie hatte keine Streptokokken gerochen. Man musste keine gute Mutter sein, um diese Krankheitskeime zu riechen, sogar ein Betrunkener konnte es. »Hast du Kopfweh?«
»Ein bisschen.«
»Bauchweh?«
»Auch ein bisschen.«
Ellen drückte ihn an sich. »War es mit Connie heute schön?«
»Erzähl mir eine Geschichte, Mama.«
»Okay. Eine alte oder eine neue?«
»Eine alte.«
Ellen wusste, welche Geschichte er hören wollte. Sie wollte sie erzählen, ohne dabei an die Fotos in ihrem Schlafzimmer zu denken. »Es war einmal ein kleiner Junge, der sehr, sehr krank war. Er lag im Krankenhaus, ganz allein. Und eines Tages kam eine Mama und sah ihn.«
»Was hat sie gesagt?«, fragte Will, auch wenn er die Antwort wusste. Das hier war keine Gutenachtgeschichte, dachte Ellen, es war ein Nachtgebet.
»Sie sagte: ›Um Gottes willen, das ist ja der süßeste Junge, den ich je gesehen habe. Ich bin eine Mama, die ein Baby will, und er ist ein Baby, das eine Mama will. Ach, wenn dieser kleine Junge nur mir gehören könnte.‹«
»Oreo Figaro beißt mir in den Fuß.«
»Oreo Figaro, hör auf damit.« Ellen stupste den Kater, der sich daraufhin an ihrem Fuß zu schaffen machte. »Oje, ich bin dran.«
»Jetzt teilt er doch mit uns.«
Ellen lachte. »Stimmt.« Sie zog den Fuß weg, und der Kater gab auf. »Zurück zu unserer Geschichte. Die Mama fragte die Krankenschwester, und die sagte: ›Ja, du kannst den kleinen Jungen mit nach Hause nehmen, aber du musst ihn sehr, sehr lieb haben.‹ Da sagte die Mama zur Krankenschwester: ›Komisch, gerade habe ich ihn in mein Herz geschlossen.‹«
»Mama, du musst die Geschichte richtig erzählen.«
Ellen hatte an Timothy Braverman gedacht und deshalb die falschen Wörter gewählt. »Da sagte die Mama zur Krankenschwester: ›Ich mag diesen Jungen sehr, sehr gern und möchte ihn mit nach Hause nehmen.‹ Die beiden wurden sich einig, die Mama adoptierte den kleinen Jungen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch.« Ellen drückte ihn fest an sich. »Ich hab dich sehr, sehr lieb.«
»Ich dich auch.«
»Dann ist alles in bester Ordnung. Ah, ich habe vergessen, dass die beiden einen Kater haben.«
»Oreo Figaro hat seinen Kopf an meinem Fuß.«
»Er will dir zeigen, dass er dich gern hat und dass es ihm wegen vorhin leidtut.«
»Er ist ein lieber Kater.«
»Ein sehr lieber Kater«, sagte Ellen. Will schwieg, seine Haut kühlte sich ab, und seine Glieder entspannten sich.
Sie blieb im Dunkeln liegen und hörte dem gelegentlichen Blubbern der Heizung zu. An der Zimmerdecke leuchteten selbstgebastelte Sterne. Das Sternbild ergab Wills Namenszug. In den Regalen stapelten sich Spielsachen und Spiele, das weiße Plastikrollo am Fenster war
heruntergezogen. An den Wänden tanzten Elefanten, die einander an den Schwänzen hielten. Ellen hatte bei lauter Hip-Hop-Musik aus dem Radio die Tapete eigenhändig angebracht. Es war ein Kinderzimmer, wie sie es sich immer erträumt hatte. Bevor Will aus dem Krankenhaus kam, war es gerade noch rechtzeitig fertig geworden.
Sie schaute wieder hoch zu dem Sternenhimmel mit Wills Namenszug. Bevor sie diesen dummen Flyer in der Post gefunden hatte, war sie so glücklich gewesen - glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Sie drückte Will an sich, doch ihre Gedanken drifteten ab. Sie hatte eine neue Idee, die nicht warten konnte.
Vorsichtig machte sie sich von Will los und kletterte aus dem Bett, was wegen des Bettgeländers nicht einfach war. Sie deckte ihn mit der Thermodecke zu und schlich sich leise aus dem Zimmer.
Nur Oreo Figaro hob den Kopf und sah ihr nach.
15
Im Arbeitszimmer schaltete Ellen die Deckenbeleuchtung an und setzte sich an ihren Schreibtisch. Es war ein Ausstellungsstück aus Holzimitat, auf dem ein ziemlich betagter Computer stand. Der Makler hatte den winzigen Raum als
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