Fatal - Roman
keine Spritzpistolen.«
Ellen war der prahlerische Ton seiner Ausführungen peinlich.
»Das Ergebnis war nicht perfekt, aber Laticia und ihre Familie waren zufrieden. Er sah aus wie ein Junge, der schläft. Das hat sie getröstet. Sogar meine Nichte war voll des Lobes.«
»Das ist schön für Sie«, sagte Ellen.
Ralston sprach weiter. »Selbst eine einzelne Schusswunde würden wir nie einfach nur bedecken. Die Spachtelmasse würde in der Wunde versinken.« Er hob den rechte Zeigefinger. »Wachs und Spachtelmasse, davon kann man nie genug haben. Wir haben dieses Jahr schon viermal mehr verbraucht als im vergangenen Jahr. Mittlerweile gibt es Lieferschwierigkeiten. Ich habe einen Kollegen in Newark, der das gleiche Problem hat.«
Ellen machte sich rasch ein paar Notizen. Hier war sie einem Mann begegnet, der Gewaltverbrechen aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtete. Aus dieser Perspektive war noch nie über einen Mord berichtet worden.
»Alle Plastikaugenhäute, die ich habe, sind zu groß für Kinder. Für Lateef und die anderen mussten wir sie mit der Schere klein schneiden.«
Auch das schrieb Ellen sich auf. »Hoffentlich kommt nie der Tag, an dem man Augenhäute extra für Kinder produzieren muss.«
»Das hoffe ich auch«, sagte Ralston. »Bei Lateef kam auch kein Draht zum Einsatz. Im Mund. Wir haben den Muskel nur zugenäht und mit Klebstoff verschlossen. Das hat sehr gut funktioniert. Er hatte derart viele Hämatome, aber wir haben einen Großteil davon zum Verschwinden gebracht. Wie wir gehofft hatten.«
»Sie sagen sehr oft wir. Hat Ihnen bei Lateef jemand geholfen?«
»Ich habe das zusammen mit meinem Sohn John gemacht.« Ralstons Ton wurde sanfter. »Wir haben um acht Uhr morgens angefangen und waren am Abend fertig. Ich habe einen Enkel in Lateefs Alter. Das war nicht einfach, weder für mich noch für John.« Er hustete ein bisschen. Ellen war versucht, ihm eine weitere Frage zu stellen, aber dann sah sie, wie er den Kopf senkte und den schmächtigen Körper beugte. »Lateef werde ich nie vergessen. Ich kannte den Jungen. Als sie ihn hereinbrachten und ich sah, wie sie ihn zugerichtet hatten, wusste ich nicht, was ich machen sollte.« Ralston schüttelte den Kopf, es bedrückte ihn noch immer. »Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Ich habe frische Luft gebraucht. Ich bin hinters Haus gegangen und habe Gott gebeten, mir zu helfen, mir Kraft zu verleihen.«
Ellen schrieb nicht mehr mit. Das war ihr zu persönlich, das gehörte nicht in ihren Artikel. Handygeklingel zerstörte die hilflose Stille der beiden. Ellen wurde verlegen. »Es tut mir leid«, sagte sie, »ich hätte das Handy ausschalten sollen.«
»Nehmen Sie das Gespräch ruhig an.« Ralston sah auf seine Armbanduhr. »Ich muss sowieso wieder an die Arbeit.«
Bevor sie das Handy ausschaltete, las sie auf dem Display die Nummer 302. Es war die Vorwahl von Delaware.
Cheryl Martin.
30
Ellen gab Gas, sie wollte nicht in den abendlichen Berufsverkehr kommen. Ihre Fahrt ging Richtung Süden. Schneeflocken wirbelten durch die Luft, an den Scheinwerfern sammelten sich Schneekristalle. Der Himmel war schwarz geworden. In den Radionachrichten hatte es eine Sturmwarnung gegeben. Ellen hatte das Gefühl, vor dem Unwetter Reißaus nehmen zu müssen. Nach diesem langen, traurigen Nachmittag war sie aufgewühlt und hypernervös. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Sie fuhr noch schneller. Wollte sie so schnell wie möglich an ihr Ziel gelangen, oder flüchtete sie vor irgendetwas?
Sie parkte vor Cheryls Haus. Es war im Tudor-Stil gebaut, mit einer weißen Stuckfassade und dunkelbraunen Verzierungen. In der Einfahrt stand eine weiße Limousine. Schnee umwirbelte die Hecken und immergrünen Pflanzen. Man glaubte, in eine riesige Schneekugel zu sehen.
Ellen wurde hereingebeten und nahm im Wohnzimmer auf einer L-förmigen, haferfarbenen Couchgarnitur Platz,
die perfekt mit dem genoppten Sisalteppich harmonierte. Der Raum wurde indirekt beleuchtet. An den Wänden hingen Landschaftsbilder. Hinter dem Panoramafenster war alles dunkel.
»Ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich wollte Sie kennenlernen, weil mir Ihre Artikel gefallen«, sagte Cheryl.
»Vielen Dank.« Ellen dachte an die Fotos von Cheryl Villiers, geborene Martin, im Haus ihrer Mutter. Cheryl war die hübsche Schwester mit den großen blauen Augen und den Sommersprossen auf der Nase. Sie sah tatsächlich Will ähnlich - abgesehen
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