Fatal - Roman
bei abgeschaltetem Motor in ihrem Wagen. Die Gerichtspapiere lagen auf ihrem Schoß. Es schneite immer noch. Das Auto parkte vor einem dreistöckigen Backsteingebäude. Es war eine Grundschule. Am Eingang stand, dass sie 1979 eingeweiht worden war. Hier sollte Charles Cartmell wohnen - was unmöglich war. Er hatte nie hier gewohnt. Amy hatte sich seine Adresse genau wie seinen Namen aus den Fingern gesogen. Sie hätte genauso gut Graf Frankenstein zu Wills Vater machen können.
Ellen war nicht sonderlich überrascht. Sie hatte gewusst,
dass die Grant Avenue eine reine Geschäftsstraße im Nordosten der Stadt war und es unwahrscheinlich war, dass jemand hier wohnte; aber sie hatte die Adresse überprüfen müssen.
Der Verkehr rollte an ihr vorbei. Die Scheibenwischer der Wagen kämpften mit den Schneemassen, die roten Bremslichter brannten Löcher in die Nacht. Wieder betrachtete sie das Strandfoto von Amy und dem tätowierten Mann. Die Straßenbeleuchtung warf einen leicht violetten Schein auf sein Gesicht, aber die Farbe seiner Augen konnte sie nicht erkennen.
»Wer ist mein Sohn?«, fragte sie in die Nacht hinaus.
32
»Vielen Dank, Con, dass du so lange geblieben bist.« Ellen zog die Eingangstür hinter sich zu. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Es war schon nach elf Uhr. Im Fernsehen steckte der Mann vom Wetter gerade einen Zollstock in zehn Zentimeter Neuschnee. »Ich weiß das zu schätzen.«
»Geht schon in Ordnung.« Connie erhob sich müde von der Couch, sie hielt ein Sudoku-Buch in der Hand. »Lief alles glatt bei deiner Besprechung?«
»Ja, danke.« Ellen nahm Connies Mantel aus dem Schrank und gab ihn ihr. »Wie geht’s meinem Kleinen?«
»Gut.« Connie schlüpfte in den Mantel. »Allerdings war heute im Kindergarten Hemdenfest, und er hatte sein Seemannshemd vergessen.«
»O nein.« Ellen bekam wieder ein schlechtes Gewissen.
Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Minuten. Ein neuer Rekord, sogar für sie.
»War er wütend?«
»El, er ist drei Jahre alt.«
»Ich hätte daran denken müssen.«
»Nein, ich hätte in seinem Rucksack nachsehen müssen. Das nächste Mal mache ich das.«
»Der arme Junge.« Ellen gab sich symbolisch einen Fußtritt. Will hasste es aufzufallen. Er hörte es nicht gern, dass er adoptiert war und keinen Vater hatte. Weder Will noch sie waren wie die anderen. »Du hattest mich sogar noch daran erinnert.«
»Jetzt mach dir keine Vorwürfe. Heutzutage kann man mit diesen Sachen leicht durcheinandergeraten. Vorige Woche war Pyjamafest, nächste Woche wird vielleicht eine Mützenparty gefeiert. Als Mark klein war, gab es das alles zum Glück noch nicht.« Connie steckte ihr Rätselbuch in die Einkaufstasche und räumte ein bisschen auf. »Du musst zu viel arbeiten für diese Redaktion.«
»Nein, du musst zu viel für mich arbeiten.« Ellen klopfte ihr auf die Schulter. »Sag Chuck, wie leid es mir tut.«
»Der kann ruhig auch mal auf mich warten.« Connie öffnete die Tür, und ein Schwall kalter, nasser Luft wehte herein. »Es schneit nicht mehr.«
»Fahr trotzdem vorsichtig. Und nochmals danke.« Ellen schloss die Tür und sperrte ab. Sie zog ihren Mantel aus und kam ins Grübeln. Heute hatte sie einiges verbockt. Sie hatte nicht an Wills Hemd gedacht und die Projektbesprechung vergessen. Der Flyer war schuld daran. Hoffentlich mailte ihr Amy bald, dann konnte sie einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen.
Sie ging in die Küche und kochte sich eine Tasse Kaffee. Amy ging ihr einfach nicht aus dem Kopf - dabei musste sie noch einen Artikel schreiben. Außerdem war sie kurz vor dem Verhungern. Über der Spüle schlang sie eine Schale Müsli in sich hinein, den Rest Milch gab sie Oreo Figaro, der ihn dankbar aufleckte. Milchtropfen hingen an seinem Schnurrbart, und seine gelbgrünen Augen blickten sie erwartungsvoll an. Er wollte mehr.
»Sorry, mein Alter, ich muss arbeiten.« Sie stellte die Schale weg.
Ellen baute ihre Artikel mühsam Stück für Stück zusammen. Alle Versuche, diese langwierige Prozedur zu verkürzen, waren bisher gescheitert. Zuerst tippte sie ihre Notizen in den Computer. Wenn sie ein Zitat brauchte, suchte sie es aus den Interviewaufnahmen heraus. Mit genügend Koffein in den Venen wagte sie sich dann an den Anfang des Artikels. Mit etwas Glück schrieb sich der Rest von allein. Kassetten und Notizen lagen vor ihr auf dem Schreibtisch. Mit Lateefs Mutter wollte sie beginnen.
»Die Obstkuchen sehen so grauenhaft aus. Die kann ich
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