Fatal - Roman
für den Vaterschaftstest hatte sie sich aus dem Internet heruntergeladen. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen überflog sie. Als Passwort, mit dem sie die Ergebnisse online abrufen konnte, wählte sie den Mädchenname ihrer Mutter: Dunleavy.
Es gab ein Formular, das ausgefüllt werden musste: Name, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit der DNA-Spender, Datum der Probeentnahme und so weiter. Wurde eine Verwandtschaft vermutet? Wenn ja, welcher Art? Ellen klebte Schildchen auf die Proben. Auf Carols Schild schrieb sie »mutmaßliche Mutter«, auf Bills Schild: »mutmaßlicher Vater«, auf Wills Schild: »Kind«. Dabei fühlte sie sich, als würde sie einen Antrag auf Aufnahme in die Hölle ausfüllen.
Dann packte sie alles zusammen und beschloss, gleich morgen zur Paketannahmestelle zu fahren, nachdem sie Will zum Kindergarten gebracht hatte. Wenn sie daran dachte, gefror ihr das Blut in den Adern.
Sie setzte sich wieder aufs Bett und streichelte Oreo Figaro, der aber keine Anstalten machte, sich mit einem Schnurren zu bedanken. Nur noch drei Tage - und Will konnte vielleicht für alle Zeiten bei ihr bleiben, weil der
DNA-Test negativ ausgefallen war. Er konnte aber auch positiv ausfallen, und dann …
Ellen erinnerte sich an ihren Schwur im Flugzeug: cool bleiben!
Auch Oreo Figaro blieb cool; kein Laut kam aus seiner Kehle.
64
Der Morgen war eisig kalt, und der trübe graue Himmel versprach für den Rest des Tages keine Besserung. Ellen stand mit ihrem Wagen auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Auf der Lancaster Avenue rauschten die Autos vorbei. An ihren Reifen klebte Streusalz, die Rückfenster waren noch vereist. Teilnahmslos sah sie auf die Straße. Im Wagen wurde es allmählich kalt. Vor einer halben Stunde hatte sie Will zum Kindergarten gebracht. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Das Päckchen mit den DNA-Proben lag wie ein Fremdkörper neben ihr.
Sie musste nur das Seitenfenster öffnen, den Griff an der Paketbox hochziehen und das Päckchen hineinwerfen - aber sie tat es nicht. Denn danach gab es kein Zurück mehr. Das Labor würde ihre Kreditkarte belasten, die Proben untersuchen und ihr die Ergebnisse zuschicken. Will gehörte dann unwiderruflich zu ihr oder zu den Bravermans.
Wie konnte sie nur so unentschlossen sein - nachdem sie den Bravermans zwei Tage lang hinterhergelaufen war und dabei ihren Job aufs Spiel gesetzt hatte? Und den
Mann, den sie liebte, drohte sie wegen der ganzen Sache jetzt auch noch zu verlieren, ohne dass sie ihn je besessen hatte. Es gab natürlich auch die Möglichkeit, die Laborergebnisse zu ignorieren. Wenn die Untersuchung zu Gunsten der Bravermans ausfallen sollte - wieso musste sie das jemandem mitteilen? Das Resultat könnte für alle Zeiten ihr Geheimnis bleiben.
Sie las zum x-ten Mal die Abholzeiten von Federal Express auf der Paketbox. Die Geschäfte im Einkaufszentrum waren noch geschlossen. Der Eingang zur U-Bahn und die Verkaufsstände verloren sich im Dunkeln. Sie trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte nicht.
Du kannst die ganze Sache immer noch abblasen.
Sie drehte den Zündschlüssel um. Der Motor sprang an. Im Getränkehalter vibrierte der Kaffeebecher. Sie musste die Proben nicht wegschicken. Sie konnte sie mit nach Hause nehmen und in den Müll werfen. Ron, ihr Anwalt, und ihr Vater wären bestimmt froh darüber. Aus der Heizung kam kalte Luft, der Wagen lief im Leerlauf.
Nein. Es gab kein Zurück.
Ein Schwall eisiger Luft schlug ihr entgegen, als sie das Wagenfenster öffnete. Sie zog den Hebel hoch und warf das Päckchen in die Paketbox, die sich mit einem dumpfen Geräusch automatisch schloss.
Die Würfel waren gefallen.
Ellen trat aufs Gaspedal. Ein langer Tag lag vor ihr.
65
Nachdem sie die Proben abgeschickt hatte, fuhr sie zur Trauerfeier für Amy Martin. Ein heruntergekommenes Viertel am Rand von Stoatesville, das nach dem Verschwinden der Industrie ums Überleben kämpfte, war das Ziel ihrer Fahrt. Nur ein paar Eckkneipen und viele leere Schaufenster erinnerten an bessere Zeiten. Das einzige gut erhaltene Haus fiel ihr sofort auf. Seine Stuckfassade war frisch gestrichen. Das musste das Bestattungsinstitut sein. Bestattungsinstitute residierten selbst in den übelsten Gegenden immer in den schönsten Häusern. Der Gedanke deprimierte sie. Arme Leute fanden nur als Tote in solchen Häusern Einlass.
Ein eiskalter Wind blies ihr entgegen, als sie aus dem Wagen stieg. Sie zog ihren schwarzen Mantel fester um sich; ihre Stiefel
Weitere Kostenlose Bücher