Fatal - Roman
klapperten auf dem maroden Straßenpflaster. Ein glanzloses Messingschild hing am Eingang des Instituts, die Glastür war schon lange nicht mehr geputzt worden. Ihr wurde ein bisschen wärmer, als sie eingetreten war. Holzstühle standen aufgereiht neben einer Vitrine aus Nussbaumimitat, darauf ein aufgeschlagenes Kondolenzbuch und eine rote Vase mit ausgebleichten Seidenblumen. Die Luft war trocken. Kein Mensch war zu sehen. Ein burgunderroter Teppich bedeckte den Fußboden, und am Ende eines langen Ganges befanden sich zwei Lamellentüren. Eine der Türen stand offen, und aus dem dahinterliegenden Raum drang Licht. Dort musste Amys Sarg aufgebahrt sein.
Ellen ging zum Kondolenzbuch und las die Namen der
Leute, die sich bereits eingetragen hatten: Gerry Martin, Dr. Robert Villiers und Cheryl Martin Villiers, Tiffany Lebov und William Martin. Seltsam. Amy hatte im Leben mit diesen Menschen kaum noch eine Verbindung gehabt. Aber nach ihrem Tod versammelten sie sich alle, um sie zu betrauern. Die verletzten Gefühle spielten jetzt keine Rolle mehr. Der Tod ließ sie all die bösen Worte, die gefallen waren, vergessen. Dass auch sie zur Trauergemeinde gehörte, obwohl sie die Verstorbene überhaupt nicht gekannt hatte, bewegte Ellen. Mit dem weißen Füllfederhalter, der neben dem Buch lag, trug sie sich in die Kondolenzliste ein.
Sie ging zu der offen stehenden Tür, zögerte aber für einen kurzen Augenblick hineinzugehen. In dem großen rechteckigen Raum hatte man zwei Reihen Klappstühle aufgestellt. Vorn stand eine Gruppe Frauen beieinander. Der Sarg war geschlossen. Es sollte Ellen also nicht vergönnt sein, einen Blick auf Amy Martin zu werfen, ihre Gesichtszüge mit denen Wills zu vergleichen. Sie war ein bisschen enttäuscht, schämte sich aber sofort wegen dieser Empfindung. Die DNA-Analyse würde das Rätsel um Amy Martin ohnehin bald lösen.
Cheryl hatte den Arm um ihre Mutter gelegt und lächelte Ellen zu.
»Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte sie mit leiser Stimme. Auch Gerry drehte sich um und sah sie an. Der Schmerz hatte die Falten um ihren Mund noch tiefer werden lassen. Der schwarze Hosenanzug, den sie trug, schlotterte um ihren Körper.
»Mein herzliches Beileid«, sagte Ellen und gab Amys Mutter die Hand.
»Das ist aber schön, dass Sie gekommen sind.« Gerrys Stimme klang heiser. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Amy hätte sie sicher gern kennengelernt. Sie müssen Ihren kleinen Jungen mal bei uns vorbeibringen.«
Cheryl nickte. »Ich würde ihn auch gern kennenlernen. Kommen Sie mit ihm vorbei, wenn es ihm wieder besser geht.«
»Gern.« Ellen spürte einen Stich in der Brust. Sie hatte vergessen, dass sie die Martins angelogen hatte.
»Schade, dass mein Mann und mein Bruder nicht mehr hier sind. Sie waren gestern Abend und heute Morgen da, aber dann mussten sie weg«, sagte Cheryl und wies auf eine junge Frau, die neben ihr stand. »Das ist eine Freundin von Amy.«
»Ich bin Melanie Rotucci«, sagte das Mädchen und streckte Ellen die Hand entgegen. Sie war Anfang zwanzig, und an einem anderen Tag hätte man sie für hübsch halten können, wenn ihre Gesichtszüge auch ein wenig hart wirkten. Sie hatte volle Lippen, und ihre grauen Augen waren vom Weinen gerötet und verquollen. Ihre helle Haut war blass und glanzlos. Das Schönste an ihr war ihr langes dunkles Haar, das in dichten Strähnen auf ihre schwarze Lederjacke fiel.
Ellen stellte sich vor. Sie war überrascht. Hatten ihr Cheryl und Gerry nicht erzählt, dass Amy keine Freundinnen hatte?
Cheryl las wohl ihre Gedanken, denn sie sagte: »Melanie hat Amy bei einer Entziehungskur kennengelernt. Sie waren richtig gute Freundinnen.«
»Amy war auf Entzug?«, fragte Ellen. Das war neu für sie.
»Wir haben es erst von Melanie erfahren. Amy wollte wirklich ihr Leben ändern. Zweimal war sie in der Klinik gewesen. Und es sah recht gut für sie aus. Stimmt’s, Melanie?«
»Ich habe wirklich gedacht: Diesmal schafft sie es. Sie war zum zweiten Mal seit dreißig Tagen clean. Nach neunzig Tagen wollte sie der ganzen Welt verkünden, dass sie kein Heroin mehr braucht.«
»Mein armes kleines Mädchen«, flüsterte Gerry und brach in heftiges Schluchzen aus. Cheryl drückte sie fester an sich.
Melanies junges Gesicht war angespannt. »Ich brauche eine Zigarette«, murmelte sie.
»Ich komme mit«, sagte Ellen. Sie war neugierig geworden.
66
Mit einem gelben Plastikfeuerzeug zündete Melanie ihre Zigarette an. »Es
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