Faulspiel (German Edition)
regelmäßig trafen und die alten Zeiten hochleben ließen.
„Na, wie findest du das Spiel? Sieht so aus, als ob die einen nicht könnten und die anderen nicht wollten.“
Marcel grinste Jean Pierre an.
Er wusste, dass sich sein Freund nicht sehr für Fußball interessierte.
„Es lebt halt von der Spannung.“
Die Türken lagen 1 : 0 vorn, und die deutsche Mannschaft versuchte bislang vergeblich, den Ausgleich zu erzielen.
Mitten in das sichere Gefühl des Sieges der türkischen Fans fiel wie aus heiterem Himmel der Ausgleich: 1 : 1!
Jetzt wurden die Karten neu gemischt. Das Stadion tobte, und die Tribünen erzitterten unter den Schlachtgesängen der deutschen Schlachtenbummler.
„So ein Tag, so wunderschön wie heute …“, skandierten sie aus tausenden Kehlen.
Neben Runge saß ein Reporter, der für das türkische Radio berichtete. Er hatte einen hochroten Kopf und schrie seine Kommentare förmlich in das Mikrofon. Es hatte den Anschein, als würde er jeden Moment vor lauter Aufregung tot vom Stuhl fallen.
Jean Pierre lächelte, er konnte diesem Sport zwar nicht sehr viel abgewinnen, allerdings gefielen ihm diese aufgeheizte Atmosphäre im Stadion und die Tatsache, wie die Menschen mit dem Spiel mitfieberten. Er konnte nun sehr gut nachvollziehen, welche Macht und Faszination in diesem Spiel lagen.
Fußball war ein Phänomen, das von den Emotionen und der Begeisterung lebte.
Wenn diese aufgeladenen Massen manipuliert und in die falsche Richtung gelenkt würden, dann war das ein Potenzial, das nicht zu unterschätzen war.
Er hatte es schon bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich miterlebt, was dabei herauskam, wenn Hooligans, egal, ob sie politisch motiviert waren oder nur ihre Aggressionen loswerden wollten, durch die Städte zogen und auf alles und jeden losgingen, was sich ihnen in den Weg stellte. Schon oft genug hatte es dabei Schwerverletzte oder sogar Tote gegeben.
Die Zeitgeschichte hat mehrfach gezeigt, dass der Mob sehr einfach zu manipulieren war, wenn er nur genügend emotional aufgepeitscht wurde. In der Masse konnte der Einzelne die individuelle Verschiedenheit ablegen und in der Menge untergehen. Dabei sank die Reizschwelle, und das Gewaltpotenzial wuchs zu einem kaum zu kontrollierenden Monstrum an.
Alle totalitären Systeme der Geschichte lebten von diesem Phänomen.
Fußball war eines dieser Beispiele, wie sich zwischen Patriotismus, gemeinsam zelebrierten Alkoholexzessen und Gewaltausbrüchen die Grenzen der Gesellschaft verschoben, und sich Emotionen und tiefste Abgründe völlig unverhüllt zeigten.
Die Halbzeitpause in diesem Spiel, das von der Erwartung lebte und getragen wurde, beruhigte die Gemüter der Fans, und im weiten Rund des St. Jakob Stadions wurden tausendfach die einzelnen Spielszenen diskutiert.
Eine nicht endende Welle der Begeisterung wogte über die Ränge, als die beiden Mannschaften zur zweiten Spielhälfte antraten.
Marcel Runge und Jean Pierre nahmen auch wieder ihre Plätze auf der Pressetribüne ein. In ihrer nächsten Umgebungwurde immer noch heiß darüber diskutiert, welche der beiden Mannschaften wohl in das Finale um die Europameisterschaft einziehen würde.
Der Tenor ging in die Richtung, dass es wohl wie immer die Deutschen sein würden.
Garry Lineker, ein ehemaliger englischer Nationalspieler, hatte einmal den Begriff Fußball aus seiner subjektiven Erfahrung sehr einfach und anschaulich definiert:
Fußball ist ein Spiel, in dem 22 Spieler um einen Ball kämpfen. Dieses Spiel dauert neunzig Minuten, und am Ende gewinnt Deutschland!
Diese rein englische Betrachtungsweise des Fußballspielens hatte natürlich seine historischen Hintergründe, denn England hatte bei Welt- oder Europameisterschaften seit mehr als fünfzig Jahren gegen Deutschland nicht mehr gewinnen können.
Inzwischen war das 2 : 1 für Deutschland gefallen, und die in schwarz-rot-gold gekleideten Fans lagen sich in den Armen.
Es waren nur noch zehn Minuten zu spielen, und sie wähnten sich im siebten Fußballhimmel. Doch die türkische Mannschaft steckte nicht auf. Die Spieler rannten und kämpften, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Immer wieder entfachten sie aufs Neue die Schlachtgesänge der Roten.
„Türkiyet, Türkiyet!!“
Das Stadion dröhnte und stampfte wie bei einem urzeitlichen Erdbeben.
Marcel Runge lief eine Gänsehaut über den Rücken! Wer, verdammt noch mal, hatte das Drehbuch für dieses unglaubliche Spiel geschrieben? Aber genau das, was
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