Faunblut
durch einen Traum bewegen – unwirklich und darauf hoffend, jeden Moment aufzuwachen.
»Moira?«, flüsterte sie. »Wir steigen doch nicht etwa auf den Turm?«
Die Jägerin warf einen Blick über die Schulter. »Wohin sonst? Der Käfig hängt schon oben.«
Die Stufen der Wendeltreppe waren zerkratzt und beinahe blind. Moira nahm zwei Treppenstufen auf einmal und lehnte sich bei jedem Fenster weit hinaus, um Ausschau zu halten. Beim vierten Fenster wurde sie fündig und winkte Jade heran.
»Glück gehabt«, meinte sie und trat zur Seite. »Mach’s kurz, ich habe nicht viel Zeit.«
Jade nickte und stürzte zum Fenster. Ein Windstoß ließ sie blinzeln. Doch gleich darauf riss sie die Augen auf. Noch nie hatte sie die Stadt aus dieser Perspektive gesehen. Hunderte von Menschen starrten zu den Käfigen hoch. In dem Meer von Gesichtern entdeckte Jade die Rebellen. Nell stand dort unten neben Manu, und sie sah auch Leute, die sie vor weniger als einer Stunde noch zu überzeugen versucht hatte. Die düsteren, gefährlich ruhigen Mienen der Rebellen ähnelten sich so sehr, dass Jade fürchtete, die Jäger müssten sie ohne Mühe in der Menge erkennen. Tanía spielte das gefährlichste Spiel von allen. Ohne darauf zu achten, dass sie von jemandem erspäht und verraten werden könnte, hatte sie sich in die vorderste Reihe gedrängt und starrte auf einen Käfig. Jade konnte nur erraten, dass sie ihre verschollene Schwester gefunden hatte. Und als sie sich entschlossen abwandte und sich zielstrebig einen Weg durch das Gewühl suchte, wusste Jade, dass es zu spät dafür war, die Rebellen von ihrem Plan abzubringen. Die Lady holte zu ihrem Gegenschlag aus. Und Tanía würde die Herausforderung annehmen. In Anbetracht der Käfige würde sie die anderen Rebellenführer mühelos überzeugen. Es gab kein Zurück. Jade fluchte leise.
»Siehst du sie nicht?«, fragte Moira. »Oben rechts!«
Jade wandte den Kopf, als ihr aus dem Augenwinkel eine andere Gefangene auffiel, die eben zu einem Käfig gebracht wurde. Rotes kurzes Haar leuchtete in einem Sonnenstrahl auf. Die Frau hielt den Kopf stolz erhoben und blickte weder nach links noch nach rechts. Als ein Wächter ihr befahl, in den Käfig zu kriechen, spuckte sie ihm ins Gesicht. Im nächsten Moment war schon ein Handgemenge im Gange. Jade schloss die Augen. Die Flussleute. Elanor. Also doch. Wie sage ich es Arif?, dachte sie, während das Mitleid für ihre Freundin von der Fähre ihr ins Herz schnitt.
»Jade?«, fragte eine Stimme ungläubig. Lilinn kauerte in einem Käfig, der ein ganzes Stück über dem Fenster hing, und klammerte sich an die Gitterstäbe. Ihre Augen wirkten wie hartes blaues Glas. »Was machst du hier?«, zischte sie. Ihre Grobheit verbarg die Angst nur schlecht. Eben war Jade noch zornig auf die Köchin gewesen, nun aber war ihr nichts wichtiger, als in ihre Nähe zu kommen. Sie streckte die Hand aus und Lilinn reagierte sofort und schob den Arm durch die Gitter. Ihr Mund verzerrte sich vor Anstrengung zu einem gefletschten Lächeln, der Käfig pendelte leicht, doch ihre Fingerspitzen berührten sich nur flüchtig.
»Verzweifle nicht!«, rief Jade ihr zu. »Wir werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dir zu helfen!«
Doch Lilinn schüttelte resigniert den Kopf, zog die Hand zurück und krümmte sich zu einem Häuflein Elend zusammen. Im Käfig konnte sie kaum gerade sitzen. Ihr Ruf klang so hoffnungslos wie eine Klage. »Geh zu Jakub!«
Jakub wird dir nicht helfen können , hätte Jade beinahe zurückgerufen, aber dann erkannte sie, dass Lilinn sich gar nicht um sich selbst sorgte. »Verschwinde schon!«, schrie Lilinn.
Jade schüttelte den Kopf. »Den Teufel werde ich tun!«
»He!«, rief Moira empört, als Jade sich mit dem Knie auf dem Fenstersims aufstützte. Flink kletterte sie auf das Sims und von dort aus nach draußen am Fensterkreuz hoch, bis sie mit Lilinn auf Augenhöhe war. Bisher hatte sie sich noch beherrscht, aber nun merkte sie, dass sie in mancher Hinsicht ganz und gar Jakubs Tochter war.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, schalt sie Lilinn. »War alles nur gelogen? Hast du dich mit mir nur angefreundet, um in das Larimar zu kommen? Was zum Teufel soll ich Jakub erzählen?«
»Livonius!«, herrschte Moira sie vom Fenster aus an. »Runter da! Es reicht!«
Die Köchin sah Jade an, als wäre sie verrückt geworden, und warf einen warnenden Blick in Moiras Richtung. »Es tut mir leid«, sagte sie laut. »Ich wurde bei euch
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