Faunblut
aufgegeben und verbergen sich seither in anderen Sphären – im Fluss, in den Spiegeln und an Orten, von denen auch ich nichts weiß. Meistens sind sie den Menschen ähnlich, sie können sogar wählen, ob sie in dieser Gestalt männlich oder weiblich sind. Sie können ihren Körper verlassen und aus Reflexionen neu erstehen, wenn ihre Könige sie rufen. Aber wenn sie in dem Körper, den sie angenommen haben, angegriffen werden, sind sie verwundbar und sterben.«
»Wie … Tishma?«
Jakub nickte. »Sie kann nicht wiederkehren. Sie ist tot.«
Jade brauchte eine Weile, um diese Worte ganz an sich heranzulassen. Ich gehöre zu ihnen, aber das kann nicht sein, ich fühle nicht wie sie, ich …
»Sie liebte die Menschen«, murmelte Jakub. »Aber von allen Menschen liebte sie am meisten mich.« Er lächelte bei der Erinnerung an einen anderen Tanz. »Wir waren beide sehr jung. Ich arbeitete in einer Spiegelwerkstatt – eines der wenigen Gewerbe, die Menschen betreiben durften. Wir fanden zusammen, obwohl es den Echos streng verboten war, mit uns Beziehungen und Freundschaften zu knüpfen. Die Könige waren keine gnädigen Herrscher. Tishma und ich, wir lebten heimlich zusammen, immer in Gefahr, entdeckt zu werden, doch jung genug, um diese Liebe nicht aufzugeben. Und dann … geschah das Unbegreifliche.«
»Wir«, flüsterte Jade. »Meine Schwester und ich. Kinder eines Echos und eines Menschen.«
»Wir glaubten es selbst nicht«, fuhr Jakub fort. »Ein Kind hätte ich vielleicht noch verbergen können, aber Tishma sagte mir, dass Echos nur Zwillinge bekommen – das ist Teil ihrer doppelten Natur. Alles an ihnen ist Spiegelung. Sie brachte euch heimlich zur Welt. Doch ihr wart keine Ebenbilder eurer selbst, sondern so unterschiedlich wie Feuer und Wasser. Tishma gab euch Menschennamen – Jade und Amber. Wir verbargen uns in der toten Stadt, die damals nur von Menschen bewohnt wurde. Ich versteckte euch. Über ein Jahr ging es gut, doch dann kamen die Echos uns auf die Spur. Es war einer der Spiegelmacher, der uns an die Tandraj verraten hat.«
Jade spürte kaum, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Die Schüsse – das andere Weinen … Sie schloss die Augen. »Es war niemals ein Traum. Die andere Stimme – das war sie!« Amber , formte Jade in Gedanken den Namen. Ihn auszusprechen, wagte sie noch nicht.
Jakub nickte. »Sie schossen auf uns und trieben uns mit Fackeln hinter einer Lagerhalle in die Enge. Es gab nur einen Ausweg – über das Dach. Doch Tishma war verletzt und nicht fähig zu klettern. Und ich wusste, ich konnte euch nicht beide halten, wenn ich auf das Dach gelangen wollte. ›Rette wenigstens eine‹ , sagte sie zu mir.« Er rieb sich über die Augen und schwieg einige Minuten und Jade drängte ihn nicht. »Ich musste mich entscheiden«, sagte er dann mit brüchiger Stimme. »Sie hätten euch beide getötet. Ihr seid nur zum Teil Echos. Ihr konntet eure Körper nicht verlassen und euch in die Spiegel flüchten. Und Tishma hätte keine von euch zurückgelassen, um sich selbst zu retten. Es gab nur einen Ausweg. Also nahm ich ihr ein Kind aus den Armen und floh.«
Jade öffnete die Augen. Sie sah ihren Vater nur verschwommen. »Warum ich?«
»Ich würde so gerne behaupten, dass es Zufall war. Aber das wäre eine Lüge. Amber war viel mehr Echo als du, ihr Aussehen hat sie verraten. Man sah es an jeder ihrer Bewegungen, in ihren Zügen, in ihren Augen. Und sie hatte das helle Blut ihrer Mutter geerbt, Kristallblut. Ich weiß, ein Vater darf so etwas nicht sagen, aber ich dachte … wenn es mir gelingt, dass wenigstens du dem Tod entgehst, dann wirst du unter Menschen leben können. Unerkannt und ohne Gefahr. Sie dagegen wäre weder unter Echos noch unter Menschen jemals sicher gewesen.«
»Dann hast du doch die Wahrheit gesagt«, murmelte Jade. »Meine Mutter wurde von Echos getötet.«
»Deine Mutter und deine Schwester auch. Amber spiegelt sich nur in dir, Jade, ein Echo der Vergangenheit. Nie wieder wird sie zurückkehren. Aber wenn meine Seele eines Tages über den Fluss geht, dann, Styx steh mir bei, wird sie mich erwarten.«
Es war seltsam. Der flammende Knoten in ihrer Brust pulsierte schwächer und schwächer. Jade wusste, sie hätte unendlich wütend und schockiert sein müssen, aber stattdessen fühlte sie nur grenzenlose Erleichterung.
»Du kennst noch nicht die ganze Geschichte«, fuhr Jakub mit belegter Stimme fort. »Ich floh mit dir in die Wälder. Wir lebten wie
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