Faunblut
nachdenklich die Mauern und die Straßen. Als er über die Brücke zurückging, war sein Gang vorsichtig. Wie ein Wildtier, das sich in der Stadt unsicher fühlt , dachte Jade. Doch seltsamerweise faszinierte sein Anblick sie trotz ihrer Enttäuschung mehr denn je. Er wirkte auf eine anziehende Weise fremd. Und das dumpfe Pochen in ihrer Brust fühlte sich an wie Kummer. Oder wie Sehnsucht. In der Mitte der Brücke blieb Faun stehen und sah direkt zu ihr herüber. Er konnte sie unmöglich erkennen, die Sonne strahlte ihm in die Augen, und Jade stand halb verborgen im Schatten, aber dennoch war sie sicher, dass er sie wahrnahm.
»Was ist denn mit euch los?«, fragte Lilinn, als Faun und Jade sich kurz darauf über den Flur hinweg einen feindseligen Blick zuwarfen und wortlos aneinander vorbeigingen.
»Dasselbe könnte ich dich und Jakub fragen«, konterte Jade und warf die Küchentür hinter sich zu.
Lilinn lachte. »Mit uns?«, gab sie ungerührt zurück. »Nichts.«
»Aha. Ihr redet ständig miteinander, du bekommst die Schlüssel zum Keller und stellst dich vor Manu und Nell auf seine Seite. Stimmt, das hört sich nach ›nichts‹ an.«
»Ist es verboten, mit deinem Vater zu sprechen?«, erwiderte Lilinn leichthin. Der Duft nach Minze und Salbei stieg Jade in die Nase, als die Köchin die Kräuter zu zerkleinern begann. Jade sah, dass sie das Messer mit der rechten Hand führte. Sie war nicht sehr geschickt damit. »Nein, verboten ist es nicht«, sagte Jade. »Aber ich verstehe es trotzdem nicht. Vor einigen Wochen hattest du kaum mit ihm geredet und jetzt …«
»Vielleicht ist es Jakub, der den Kontakt zu mir sucht«, sagte Lilinn. Ein Punkt für sie.
»Und was sollte der Spruch, dass du keine Spionin der Lady bist?«
Lilinn hielt mit dem Kräuterhacken inne. »Machst du dir darüber etwa Gedanken?«, fragte sie erstaunt und lachte wieder. »Jade, soll das heißen, du misstraust mir? Mir? Wie kommst du darauf, dass ich euch anlügen könnte?«
»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Jade vorsichtig. »Aber manche würden sich vielleicht fragen, wie sich eine Linkshänderin beim Gemüseschneiden ausgerechnet an der linken Hand verletzen kann.«
Lilinns blaue Raubvogelaugen verengten sich. »Manche würden sich das fragen, mag sein. Aber du ganz bestimmt nicht. Du weißt schließlich, dass ich die Hand beim Schneiden häufiger wechsle. Auch wenn ich mit der Rechten nicht so geschickt bin. Zumindest nicht beim Gemüseschneiden.«
Jade zuckte zusammen, als Lilinn blitzschnell mit dem Messer ausholte. Es sauste durch die Luft und traf mit einem trockenen Knall genau in die Mitte eines Balkens. Jade starrte Lilinn mit offenem Mund an. Und Lilinn konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. »Wenn man zwei Jahre mit Yorrik in den Gassen und Kellern der Stadt gehaust hat, mit all dem Gesindel, dann lernt man, mit beiden Händen zu kämpfen, das kannst du mir glauben!«
Jade atmete auf. Das hast du von deinem Misstrauen , schalt sie sich. »Entschuldige«, sagte sie leise. »Diese Hetzjagd, die Echos …«
»Ich weiß! Wir sind alle halb verrückt vor Sorge, mir geht es nicht anders. Und was Jakub angeht … darf ich ganz ehrlich sein, Jade? Ja, ich mag ihn sehr. Aber anfangs hielt ich ihn für einen rohen Kerl. Einen von denen, die alles tun, um sich Vorteile und die Gunst der Lady zu verschaffen. Bis ich festgestellt habe, dass er ein gutes Herz hat.«
»Das hat er wirklich«, sagte Jade mit Nachdruck. »Und du weißt wohl selbst am besten, wie leicht ein Herz zerbricht.«
»Worauf willst du hinaus?«
Jade verschränkte die Arme. »Es klingt fast so, als hättest du dich in ihn verliebt.« Und wäre das so schlimm? , fragte sie sich im selben Augenblick.
Lilinn verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. »Hätte er das verdient? Wie du weißt, verliebe ich mich nur in Schürzenjäger und Lügner. Ich weiß nicht, ob du das verstehst, aber bei ihm habe ich das Gefühl, dass er … wie ich ist.« Jade verstand es, sie verstand es sogar sehr gut. Wenn zwei Menschen sich in ihrem Unglück ähnelten, dann waren es Lilinn und Jakub.
»Wie alt war Jakub, als du auf die Welt kamst?«, fragte Lilinn.
»Neunzehn. Warum willst du das wissen?«
»Weil er junge Augen hat. Nur der Bart lässt ihn so alt erscheinen. Ich wünsche ihm so sehr, dass er seinen Kummer eines Tages überwinden kann.«
Dieser Satz kam aus vollem Herzen, und Jade fühlte, wie ihr Unbehagen sich auflöste und einem
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