Faunblut
sondern rannte zum Fenster und winkte Jade heran.
»Seid ihr verrückt?«, zischte Jade. »Da draußen laufen jede Menge Leute herum, die nichts mit den Jägern zu tun haben! Nehmt ihr jetzt schon jedes Menschenleben in Kauf?«
»Risiko«, antwortete Tanía trocken. »Mach dir nicht immer so viele Sorgen um andere. Die Bestien stiften ein wenig Verwirrung und lenken die Jäger ab, das ist alles.«
Es war ganz und gar kein gutes Gefühl, an das zu denken, was draußen vorgehen mochte.
»Von wem lenken sie ab? Lord Norem?«
»Komm schon her!«, sagte Tanía ungeduldig. Zögernd trat Jade zu der Rebellin und blickte ebenfalls aus dem Fenster. Es gab den Blick frei auf eine Sackgasse. Unrat türmte sich hier, es stank nach gärenden Abfällen. Mochte sich dahinter auch ein neues Adelshaus mit glänzender Fassade erheben, auf der Hinterseite bröckelte von den Gebäuden, die die blinde Gasse säumten, der Putz ab. Die Überreste einer Steinfigur unter dem Fenster zeugten davon, dass auch dieses Haus aus der Zeit der Könige stammte. Die Figur hatte einst einen Mann dargestellt, aber nun waren von ihm nur noch die muskulösen Beine und ein Teil der Hüfte übrig.
Von links erklang das Stampfen von Stiefeln. Hundegebell schwoll an. Jade und Tanía zuckten beide zurück, als sie die Jäger auf der Straße vorbeistürmen sahen. Raubtiergeruch wehte zu dem Fenster hoch, und Jade glaubte, im Getümmel das weiße Fell einer Schneekatze aufblitzen zu sehen. Einem Schuss und einem Fauchen folgte Triumphgebrüll aus einem Dutzend Kehlen.
»Das hätte sich Lord Norem auch nicht träumen lassen«, feixte Tanía. »Seine kostbare Menagerie – Jagdbeute für die Jäger und Galgos.«
Jade konnte darüber nicht lachen. »Hast du ihn getötet?«, fragte sie leise.
Tanía wurde ernst und schüttelte den Kopf. »Lord Norem? Nein, ich habe lediglich herausbekommen, wann er täglich in den Winterpalast geht, über einen Schleichweg, verkleidet mit einem groben Umhang. Mit etwas Glück hat Ruk ihn vorhin auf diesem Weg abgepasst, während die Jäger damit beschäftigt waren, seinen Zoo in Schach zu halten. Wenn ihn seine eigenen Bestien nicht vorher schon selbst erwischt haben.« Ein humorloses Lächeln gab ihren Zügen einen harten Ausdruck. »Nun, den Geschmack von Menschenblut sind sie ja gewohnt.«
»Heißt das …«
Tanía nickte. »Habt ihr die Schreie gestern nicht bis ins Larimar gehört? Warum, glaubst du, sind die Galgen immer noch leer? Nun, nach dem, was wir jetzt wissen, werden sie auch leer bleiben. Wieso gutes Menschenfleisch in der Sonne verrotten lassen, wenn man sich und den Bestien damit in der Menagerie einen vergnüglichen Nachmittag gönnen kann?«
Bisher war Jade nur flau im Magen gewesen, aber jetzt war ihr plötzlich schrecklich schlecht.
Tanía schlug ihr auf die Schulter. »Komm, Prinzessin«, sagte sie versöhnlich. »Zurück in den Untergrund!«
Ihre Worte gingen in einem Jaulen unter, dem eine Gewehrsalve folgte. Jade zuckte zusammen. Anstatt zur Tür zu rennen wie Tanía, warf sie einen vorsichtigen Blick zur Straße. Es waren die Stiere. Staubwolken wirbelten hoch, als eines der Tiere ausrutschte und fiel. Es zuckte wie im Krampf und lag dann still.
»Jade!«, mahnte Tanía von der Tür.
Ein Mantel wirbelte im Staub, Schüsse knallten, ein Galgo hetzte in die Gasse. Und eine Jägerin, dicht gefolgt von dem zweiten Stier.
Moira.
Es war einer dieser Augenblicke, in denen tausend Eindrücke und Gedanken in einer einzigen Sekunde zusammenfließen. Jade nahm wahr, dass die vergoldeten Hörner des Stieres rot verschmiert waren und dass der Koloss aus mehreren Wunden blutete, was ihn nur noch mehr zur Raserei trieb. Sie sah, wie Moira erkannte, dass sie in die Falle gelaufen war. Wie sie sich umdrehte und zielte und ihr Gewehr nur noch nutzlos klickte. Wie sich das Begreifen in ihrem Gesicht abzeichnete, dass sie sterben würde. In einer Sackgasse. Zwischen Abfall und Steinstaub. Sie ist eine Jägerin , sagte eine Stimme in Jades Kopf. Und dieselbe Stimme schrie zur gleichen Zeit: Sie wird gleich von Hörnern durchbohrt!
Die Gläser und die Karaffe zerschellten, als Jade das Tuch vom Tisch riss. Sie konnte nur hoffen, dass es Moiras Gewicht tragen würde. Das Letzte, was sie sah, bevor sie die Beine über das Fensterbrett schwang und aus dem Fenster kletterte, war Tanías verblüffte Miene.
Der Stier hatte Moira in die Ecke getrieben. Keuchend stand sie mit dem Rücken zur Wand, das Gewehr am Lauf
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