Faunblut
man rechnen, wenn man sich mit der Lady anlegt«, bemerkte Lilinn.
»Was soll das heißen?«, fragte Jade. »Billigst du diesen Wahnsinn da draußen? Tun dir die Menschen nicht leid? Wusstest du, dass die Lords die Gefangenen an ihre Tiere verfüttern?«
Lilinn verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln und hob resigniert die Hände. »Es sind Lords. So sind die Machtverhältnisse eben in dieser Stadt und wir müssen damit zurechtkommen. Für das Leben eines Lords wäre ein gnädiger Tod am Galgen ganz sicher keine Sühne.«
»Du scheinst deine Meinungen ja ebenso schnell zu ändern wie deine Liebhaber«, sagte Jade spitz. An der Art, wie Lilinn herumfuhr und sie aus ihren blauen Raubvogelaugen anfunkelte, merkte sie, dass sie gut getroffen hatte.
»Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Liebe und Krieg«, antwortete Lilinn mit mühsam beherrschtem Zorn. »An Liebesschwüren und einem gebrochenen Herzen ist noch nie jemand gestorben, aber im Krieg kann schon ein falsches Wort tödlich sein. Also hüte deine Zunge.«
»Du befiehlst mir ganz sicher nicht, wann ich zu schweigen habe«, sagte Jade ruhig. »Schon gar nicht hier im Larimar.«
»Lilinn hat recht«, sagte Jakub. »Bitte bring dich nicht selbst in Gefahr. Wir sind Lady Mars Untertanen, so ist es nun mal, und solange wir uns aus ihren Angelegenheiten raushalten, haben wir nichts zu befürchten.«
Etwas lief hier falsch. Ganz entschieden falsch. »Du weißt genau, dass das eine Lüge ist!«, rief Jade. »Was für ein Spiel spielt ihr beiden plötzlich? Werdet ihr beide vom Hof bezahlt, um euch vor der Lady in den Staub zu werfen?«
Der Jakub, den Jade kannte, wäre spätestens jetzt explodiert. Aber der Mann mit dem glatt rasierten Kinn antwortete ihr nicht, sondern wechselte einen vielsagenden Blick mit Lilinn. Und Jade erkannte, dass sich tatsächlich etwas ganz Entscheidendes verändert hatte.
»Nun, der Knebel scheint euch ja gut zu schmecken«, meinte sie sarkastisch, knallte die Tasse auf den Tisch und stand auf. Jakub sah sie betreten an, aber er hielt sie nicht zurück, als sie die Küche verließ. Und die Köchin, die früher einmal ihre Freundin gewesen war, wandte sich ab und summte weiter ihr Lied.
*
Die letzten Schüsse verhallten erst am Nachmittag, ungefähr zur selben Zeit, als der Strom im Hotel komplett ausfiel. Der Fahrstuhl blieb zwischen den Stockwerken stecken, und Jakub fluchte und machte sich daran, die Kabine mit der Hand mühsam ins Erdgeschoss zu kurbeln.
Jade nutzte den Moment, um aus dem Haus zu schlüpfen. Heute hinterließ sie keine Nachricht auf der Kreidetafel, viel zu wütend war sie auf Jakub. Sie wusste, dass es noch zu gefährlich war, zur Schädelstätte zu gehen und Ben zu kontaktieren. Aber um Nell zu finden, musste sie nicht weit laufen. Sie hatte sich in einem Keller in der Nähe der Greifenbrücke versteckt und erschrak fast zu Tode, als Jade durch die durchbrochene Wand auf sie zukroch.
»Ist es vorbei?«, flüsterte sie, als sie sich etwas erholt hatte.
Jade schüttelte den Kopf. »Sie sind im anderen Teil der Stadt. War Tanía heute hier?«
Nell nickte. »Sie kommt wieder, sie macht eine Erkundungsrunde. Ich habe sie gebeten zu bleiben, aber …« Sie schüttelte resignierend den Kopf.
Jade stöhnte auf. Typisch Tanía. Sie wird uns noch alle verraten, wenn sie in die Hände der Jäger fällt , dachte sie verärgert.
»Hör gut zu, ich habe Neuigkeiten«, flüsterte sie. »Es ist wichtig, dass du sie Tanía ausrichtest. Und falls du Ben siehst, sag es ihm auch. Sag es allen, versprichst du mir das?«
Nell nickte.
Jade holte Luft und begann zu erzählen. Nell wurde blass, ihr Mund klappte vor Entsetzen auf. Nackt und leer glänzte ihr rosiges Zahnfleisch im dämmrigen Licht.
»Er ist tot?«, nuschelte sie. »Der Winterprinz?«
»Das sagen die Nordländer, ja. Und bevor wir Gewissheit haben, ob das wirklich wahr ist, müssen wir uns zurückhalten! Kein Risiko, keine Angriffe. Sag es den anderen. Sie sollen im Untergrund verschwinden, bis wir mehr wissen. Verstanden?«
Nell nickte heftig, doch sie brachte kein Wort mehr heraus. Jade klopfte ihr auf die Schulter. »Nicht gleich verzweifeln, Nell. Noch ist nicht alles verloren«, sagte sie und kam sich vor wie ein Schauspieler vor leeren Rängen. Dann kroch sie wieder ans Tageslicht. Bevor sie auf die Straße trat, vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete, dann schob sie noch eine zusätzliche Nachricht unter einen losen
Weitere Kostenlose Bücher