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Fear

Fear

Titel: Fear Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Bale
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er ihre Zelle betrat, klopfte er an. Es wirkte vielleicht wie ein kurioser Akt der Höflichkeit, aber das war es nicht. Es war eine Anweisung, die Taschenlampe auszuschalten und sich mit dem Gesicht zur Wand hinzulegen.
    Anfangs hatten diese Regeln noch Hoffnung in ihr aufflackern lassen. Er wollte nicht, dass sie sein Gesicht sah – also hatte er vor, sie am Leben zu lassen.
    Dann fiel ihr ein, dass sie diesen Mann in einem Pub kennengelernt hatte. Sie hatte mit ihm geredet und gelacht und getrunken, und dann, wahrscheinlich unter Drogen gesetzt, hatte sie das Pub in seiner Begleitung verlassen.
    Sie kannte sein Gesicht. Sosehr sie es auch versuchte, sie konnte dieses Wissen nicht aus ihrem Gedächtnis löschen, und selbst wenn sie behauptete, es vergessen zu haben, würde er es ihr niemals glauben.
    Und sie kannte auch seinen Namen, obwohl sie sich nicht sicher war, ob er sich daran erinnerte, ihn genannt zu haben. Sie konnte nicht beschwören, dass er nicht ihrer Fantasie entsprungen war. Eine trügerische Erinnerung, herübergeschwappt aus ihren Alpträumen.
    So oder so – es war ein Gebot der Logik, dass er sie nicht am Leben lassen durfte. Besser, sie behielt dieses Wissen für sich, auch wenn die ruhelose, kämpferische Seite ihres Charakters nur zu sehr gewillt war, auf eine Antwort zu drängen. Auf eine ähnlich direkte Frage hatte er zuvor ungehalten reagiert.
    »Wirst du mich wieder vergewaltigen?«
    »Nenn es nicht so.« Das laute Dröhnen seiner Stimme hatte den engen Raum ausgefüllt wie die Stimme eines bösen Riesen im Märchen. »Es ist Sex. Wir haben Sex. Okay?«
    Jenny war zu eingeschüchtert gewesen, um auch nur ein Wort zu sagen. Er hatte im Dunkeln nach ihr getastet und ihr eine Ohrfeige gegeben.
    »Antworte mir!«
    »Ja. Wir haben Sex.«
    »So ist es. Und zwar jetzt gleich.«
    Heute war sie besser vorbereitet. Sie wartete, bis sie den Eindruck hatte, gefahrlos sprechen zu können. Es war unglaublich, wie exakt sie seine Stimmung einschätzen konnte, allein aus den Geräuschen, die er machte: dem Schlurfen oder Scharren seiner Füße auf dem Betonboden, dem Rascheln seiner Kleider, seinem schnaufenden, keuchenden Atem, den zappeligen Bewegungen seiner Hände.
    »Wie spät ist es?«
    »Wieso? Was hast du davon, wenn du das weißt?«
    »Bitte. Es kostet dich doch nichts.«
    Er überlegte fast eine Minute lang, und dann warf er ihr seine Antwort hin wie eine Handvoll Fusseln aus seinen Hosentaschen. »Es ist so gegen zehn, Viertel nach zehn.«
    »Morgens?«
    »Ja.«
    »Danke.« Ermutigt durch ihren Erfolg und vielleicht der Täuschung erlegen, ihr unterwürfiger Charme könne ihn erweichen, setzte sie nach. »Bin ich allein hier?«
    »Was?«
    »Ich dachte, ich hätte etwas gehört … ich glaube, es war letzte Nacht. Es hörte sich an wie ein Schrei. Der Schrei einer Frau.«
    »Nee«, sagte er. »Das bildest du dir ein.«
    Sie seufzte. »Meinst du?«
    Die Frage, so bedächtig und einfühlsam gestellt, schien ihn zu entwaffnen; vielleicht hatte er mit Widerspruch gerechnet. Leise lachend sagte er: »Hier musst du ja irgendwann verrückt werden, wenn du es nicht schon vorher warst.«
    »Wie meinst du das?«
    »Hör zu, du bist allein, ist das klar? Du warst von Anfang an allein.«
    Nachdem er gegangen war, hatte sie lange geweint. Es war eine jämmerliche Reaktion, ein Zeichen von Schwäche und Selbstmitleid, aber sie konnte nicht dagegen ankämpfen. Seine Bemerkung über ihren Geisteszustand hatte sie zutiefst verletzt.
    Hier musst du ja irgendwann verrückt werden, wenn du es nicht schon vorher warst …
    Endlich kam sie darüber hinweg und zwang sich, sich auf das Erreichte zu konzentrieren. Sie hatte jetzt immerhin eine Uhrzeit oder zumindest eine ungefähre Vorstellung. Es war Vormittag. Diese Mahlzeit war das Frühstück.
    Aber an welchem Tag? Das würde ihr nächstes Ziel sein: herauszufinden, welcher Wochentag es war. Und dann die Frage, die sie so intensiv beschäftigte: Wie lange war sie schon hier?
    Auf jeden Fall mehrere Tage. Darüber hinaus konnte sie nichts mit Bestimmtheit sagen. Gewiss doch lange genug, um vermisst zu werden …?
    Jenny war zweiundzwanzig, blond und schlank, eine aufgeweckte, attraktive junge Frau. Das war nicht ihre eigene Einschätzung; es war das, was andere Leute über sie gesagt hatten. Bis Mai dieses Jahres hatte sie an der Exeter University Klassische Philologie und Alte Geschichte studiert, aber infolge einer Krankheit hatte sie das Studium abgebrochen,

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