Fear
ein Wespennest entdeckt hatte, das die Tiere in akribischer Kleinarbeit aus Fetzen von Zeitungspapier zusammengefügt hatten. Das ehrfürchtige Staunen, das er damals angesichts dieses Werks einer durch und durch fremdartigen Intelligenz empfunden hatte, überkam ihn auch hier.
Die Hauptkammer der Höhle hatte einen rechteckigen Grundriss, ungefähr sechs auf drei Meter, mit drei weiteren bogenförmigen Durchgängen, die offenbar zu kleineren Nebenkammern führten. Die Decke der Höhle bildete eine Kuppel und verengte sich nach oben zu einem zentralen Schlot, durch den ein schwaches, ätherisches Licht in die Kammer drang.
Kuppel und Boden bestanden aus blankem Fels, doch die Wände – jeder Quadratzentimeter davon – waren mit Muscheln geschmückt. Millionen von Muscheln in den verschiedensten Größen, Formen und Farben mit äußerster Sorgfalt und Präzision angebracht. Die Wirkung war gigantisch.
Die Muscheln waren zu großen rechteckigen Feldern angeordnet. Als Joes Augen sich allmählich an das Dämmerlicht gewöhnten, begann er Konturen und Symbole innerhalb der Felder zu erkennen. Verschiedene Tiere waren abgebildet in einem Stil, der an ägyptische, griechische und phönizische Kunst erinnerte; daneben sah man Phallussymbole, Lebensbäume und antike Götter und Göttinnen. Aber der Ort und die Form der Darstellung schienen von einer Kultur zu künden, die nicht von dieser Welt war.
»Wer hat das alles geschaffen?«
»Das weiß niemand.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst?«
Ellies leises Lachen hallte von den Wänden wider. Als Joe sah, dass sie hier unten allein waren, kam er sich noch privilegierter vor.
»Das Ganze ist ein einziges Rätsel. Niemand hat auch nur die leiseste Ahnung, wer es geschaffen hat oder wann oder warum.«
»Ich kann gar nicht glauben, dass ich noch nie davon gehört habe.«
»In gewisser Weise bin ich froh darum. Ich will nicht, dass unsere Höhle überlaufen oder in ein Disney-Spektakel verwandelt wird. Dazu ist sie zu kostbar.« Sie folgte ihm, als er von Feld zu Feld ging. »Ursprünglich muss es ein noch spektakulärerer Anblick gewesen sein. Die Farben sind im Lauf der Jahrhunderte stark verblasst.«
»Was weiß man denn über die Geschichte? Von wie vielen Jahrhunderten reden wir?«
»Da kann man nur Vermutungen anstellen. Die Höhle wurde erst 1835 entdeckt. Hier in der Gegend gibt es überall Höhlen und Tunnels. Es waren Schmuggler, die das hier entdeckt haben. Sie sind durch eine der Vorkammern gebrochen und haben sich dann durch die Kuppel nach oben gegraben. Das Loch am oberen Ende war früher mit Erde und Steinen verstopft. Jetzt ist es mit Plexiglas abgedeckt.«
Sie deutete auf die Wände. »Angeblich gibt es hier über vier Millionen Muscheln. Selbst wenn ein ganzes Team daran gearbeitet hat, bleibt es noch eine gewaltige Leistung: Sie mussten die Höhle graben und formen und dann die Muscheln in mühevoller Kleinarbeit sammeln und hertransportieren. Und offenbar mussten sie an die Wände geklebt werden, solange sie noch lebten. Aber vor der Entdeckung gab es nicht den geringsten Hinweis auf die Existenz der Höhle. Keine Gerüchte, keine lokalen Legenden, nichts.«
Joe schüttelte den Kopf. »Das ist doch nicht zu begreifen. Kann man die Muscheln denn nicht untersuchen?«
»Es wurde versucht, sie mit der C14-Methode zu datieren, aber die viktorianischen Lampen haben alles mit einer Rußschicht überzogen, sodass die Ergebnisse unbrauchbar waren.« Sie lachte wieder mit geradezu kindlichem Vergnügen. »Wissenschaftler haben den Klebstoff analysiert, aber ohne Erfolg. Er enthält Elemente, die sich nicht identifizieren lassen. Man weiß einfach nicht, wie sie es gemacht haben.«
Mit einem verzückten Seufzer blickte Ellie zu der Lichtsäule in der Mitte der Kammer. »Wir könnten in einer Kultstätte stehen, die älter ist als Stonehenge oder Avebury. Erbaut von einer Zivilisation, von der wir absolut gar nichts wissen.«
Joe grinste. Das hier war eine vollkommen andere Ellie, überbordend vor ansteckendem Enthusiasmus, meilenweit entfernt von der unterkühlten, bissigen Fassade, die sie ihm bisher präsentiert hatte.
Stück für Stück erkundeten sie die Höhle. In einer der Nebenkammern gab es eine Nische mit einer Art Altar darin. Ellie erläuterte einige der Theorien über die Kulthandlungen, die hier vielleicht abgehalten wurden. Bei einer ging es um einen Sonnenkalender und bestimmte Felder, auf die jeweils zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche und
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