Fear
zur Sommersonnenwende das Licht fiel.
»Aber das sind alles Vermutungen. Man hat die Wände mit Radar untersucht und Hohlräume hinter den Tafeln identifiziert. Aber niemand kann sich mit dem Gedanken anfreunden, die Wände aufzubrechen, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt.« Sie lächelte eine Weile versonnen. »Ich bin wirklich froh, dass Sie es auch spüren. Dieses Gefühl von Ehrfurcht.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemandem nicht so geht.«
»Oh, ich kenne Leute, die das hier sehen und denken: Eine Höhle voller Muscheln – na und?« Sie schnaubte verächtlich, offenbar über eine bestimmte Erinnerung. »Für mich ist das hier eine Mahnung, dass wir längst nicht auf alles eine Antwort haben.«
»Daran habe ich nie gezweifelt.«
»Ich meine nicht Sie persönlich, sondern die Menschen überhaupt. Wir glauben, dass wir klüger sind als die Generationen vor uns, weil sie in Höhlen gelebt und sich in Tierhäute gehüllt haben, während wir Zentralheizung und iPads und Hedgefonds haben. Tatsache ist, dass wir keinen blassen Schimmer haben, welche anderen Zivilisationen vielleicht Tausende von Jahren vor uns geblüht haben und sich in einer Weise entfaltet haben, von der wir nur träumen können. Die Menschen, die das hier geschaffen haben, waren vielleicht unglaublich weit fortgeschritten und lebten in glücklichen, stabilen Gemeinschaften, wo alle gesund waren und füreinander sorgten mit schwerer Arbeit, aber auch jeder Menge Freizeit. Für mich ist die Muschelhöhle wie ein Wink, ein Hinweis darauf, was unsere strahlende moderne Welt alles verloren hat.«
Mit einem verlegenen Schulterzucken signalisierte Ellie, dass ihr Vortrag beendet war.
Joe lächelte. »Wow.«
»Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?«
»Es ist eine sehr überzeugende Argumentation. Aber ich würde trotzdem weiterhin behaupten, dass die Menschen heute im Grunde noch die gleichen sind wie vor Jahrtausenden. Manche sind genial, erfindungsreich und mitfühlend; andere sind gemein und egoistisch und grausam. Der grundlegende Konflikt spielt sich zwischen diesen gegensätzlichen Kräften ab. Und manchmal existieren diese Kräfte in ein und derselben Person.«
Angeregt von der Diskussion ließ Ellie ihre Hand kurz auf seinem Arm ruhen. »Ah, aber wissen Sie, ich bin Optimistin. Ich möchte lieber glauben, dass die ideale Gesellschaft keine leere Utopie ist.«
Joe dachte an Giles Quinton-Price, der im Begriff war zu verkünden, dass Leon Race etwas gelungen sei, woran viele andere gescheitert waren. Die Methoden, mit denen diese Erfolge erreicht worden war, schienen dabei keine Rolle zu spielen. Er schauderte.
»Es gibt Leute, die glauben, dass Trelennan dem Ideal ziemlich nahe kommt.«
»Dann irren sie sich«, sagte Ellie. »Im Gegenteil, nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.«
»Tatsächlich?« Ihm war plötzlich sehr kalt. Hatte das Licht gerade geflackert, oder spielten ihm seine Augen einen Streich?
Die Pracht der Muscheln hatte ihn vergessen lassen, wo er war. Jetzt hatte er das Gefühl, dass die Steinwände sich um ihn zusammenzogen, er spürte das Gewicht der Tonnen von Erde und Felsen, die ihn zu erdrücken drohten, und eine Stimme in seinem Kopf schrie: Du bist in einer Höhle. Du sitzt in der Falle.
Ellie redete auf ihn ein. Joe musste alle Kraft zusammennehmen, um ihr zu folgen. »… ist natürlich leicht, nach außen hin eine schöne Fassade aufzubauen. Ich sollte das eigentlich nicht sagen, aber es ist wahr.«
Sie hatte sich ein wenig von ihm entfernt, und als sie sich umdrehte, bewegten ihre Lippen sich immer noch, doch das plötzliche Dröhnen in seinen Ohren übertönte ihre Worte. Auch mit dem Licht stimmte etwas nicht; einen Moment war es heller, dann wurde es schlagartig schwächer. Der Boden neigte sich, Joe strauchelte, und dann wurde es mit einem Mal stockfinster.
35
Keine fünf Minuten später klingelte das Telefon erneut. Leon hob ab, sagte aber nichts.
»Mr Race? Ich will hier nicht meine Zeit vergeuden. Tatsache ist, ich weiß viel mehr als bloß, wer er ist. Aber wenn Sie ihn gar nicht haben, lohnt es sich kaum, dass ich …«
»Ich weiß, wo er zu finden ist.« Leons Stimme war stahlhart. »Und ich weiß auch, dass er auf der Flucht ist.«
Ein Zögern am anderen Ende. Hab dir wohl den Wind aus den Segeln genommen , dachte Leon. Dann kam das asthmatische Lachen.
»Aber vor wem? Das ist der Haken. Vor wem, hä?« Der Mann ließ die Frage einen Moment in der
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