Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
ein Freund sein.«
Nach dem Schulabschluss wurde Zhou Jing in ein abgelegenes Dorf verschickt. Ich dachte danach oft an sie. Doch ich habe sie nie wiedergesehen.
Kapitel 48
W ährend ich mich schnell an den Schulalltag gewöhnte, war das Leben daheim in der Kirche nicht frei von unangenehmen Überraschungen und Schwierigkeiten. Die Kirche stand auf einer kleinen Anhöhe namens Fenghuangshan (Phönixberg), von Wohnhäusern umgeben. Die einzige öffentliche Latrine im Viertel mussten sich fast zweihundert Familien teilen. Von der Kirche bis dorthin war es ein fünfminütiger Fußmarsch bergauf. Für unsere Trinkwasserversorgung stand uns nur ein einziger Wasserhahn vor der Kirche zur Verfügung. Oft war der Druck so niedrig, dass es aus dem Hahn lediglich tröpfelte. Und an manchen Tagen gab es überhaupt kein Wasser.
Einer unserer Nachbarn war ein unterer Kader, der verzweifelt nach einer Beförderung strebte. Er war fünfzig Jahre alt und so dürr, dass er wie ein wandelndes Skelett aussah. Seine Wangen waren eingesunken, die Haut war fahl, das Haar schütter und weiß. Seit Jahren hatte er sich vergeblich bemüht, in der Partei aufzusteigen. Die anderen Nachbarn hatten uns gewarnt, dass der Mann als Spitzel arbeitete, um sich bei seinen Parteigenossen lieb Kind zu machen. Seit dem Tag, als wir eingezogen waren, zeigte er ein besonderes Interesse an meinen Eltern.
Wir hatten oft Gäste, denen der Kader stets eine aufdringliche Neugier entgegenbrachte. Wenn sie kamen oder gingen, fing er sie ab und verwickelte sie in verfängliche Gespräche. Er wollte wissen, wie sie hießen, wo sie arbeiteten und was sie mit uns zu schaffen hatten. Dann eilte er in seine Wohnung und verfasste einen minutiösen Bericht für die höheren Parteikader. Außerdem konnte er unsere Gespräche belauschen – beim Bau der Kirche hatte man Wert auf eine gute Akustik gelegt. Selbst wenn jemand nur einen Darmwind fahren ließ, hörten wir es alle – und kicherten. Der Kader schien rund um die Uhr auf der Lauer zu liegen. Seine detaillierten und weitschweifigen Berichte gingen in die Akten meiner Eltern ein, die dank seiner Beobachtungen und Verdächtigungen immer dicker wurden.
Von seinen Umtrieben erfuhren wir eines Nachmittags, als er mit einem dicken Stoß von Papieren zu einer Parteiversammlung hastete. Dabei flatterte ein Blatt zu Boden. Ich fand es wenige Schritte von unserer Vordertür entfernt, als ich von der Schule kam. Es enthielt die Namen meiner Eltern, ein Stundenprotokoll und eine Zusammenfassung der Aktivitäten und der Unterhaltungen meiner Eltern. Ich gab das Blatt meinen Eltern. Sie wussten nicht, was sie damit machen sollten. Keinesfalls durfte es bei ihnen gefunden werden. Also rissen sie es in kleine Fetzen und verbrannten es in unserem Ofen. Wenig später sah ich, wie der Mann mit suchendem Blick vor der Kirche herumschlich. Finster sah er zu mir hoch. Ich lächelte nur und ging hinein, um meine Hausaufgaben zu machen.
Im Unterschied zu diesem lästigen Plagegeist ging von den Chens, die neben uns wohnten, keine Gefahr aus. Der Vater arbeitete im Friseurladen der Universität, die Mutter in der Wuhu-Textilfabrik. Sie hatten drei Kinder. Das älteste war Yuanyu, das Mädchen, das ich durch die Schilfgraswand weinen gehört hatte. Abend für Abend unterhielten wir uns flüsternd durch die Wand, bis jemand im Gebäude rief, wir sollten endlich ruhig sein. Yuanyu besuchte dieselbe Schule wie ich, war aber eine Klasse über mir. Wir freundeten uns rasch an. Sie hatte etwa meine Größe und war ein sehr hübsches Mädchen mit schmalen Augen, vollen Lippen und einer hellen, sommersprossigen Haut. Auch sie hatte zwei Brüder, und morgens mussten wir zur selben Zeit aufstehen. Wer zuerst aufwachte, weckte die andere mit einem leisen Klopfen gegen die Schilfmatte. Dann zogen wir uns an, nahmen einen Korb und gingen gemeinsam einkaufen. Der offizielle Markt war billiger als der Schwarzmarkt, aber die Lebensmittel waren von schlechterer Qualität und außerdem rationiert. Trotzdem kauften wir meistens dort ein. Man musste immer lange Schlange stehen. Während wir zusammen warteten, plauderten wir und kämmten uns gegenseitig das Haar.
Als wir das erste Mal gemeinsam zum Markt spazierten, beugte sich Yuanyu zu mir vor und flüsterte: »Siehst du ihn?«
»Wen?«, fragte ich, da es hier um diese Zeit von Marktbesuchern wimmelte.
»Unseren verrückten Nachbarn. Er verfolgt uns.«
Ich schaute mich um, sah aber nichts
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