Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
verschlagen hatte, fuhr sie fort: »Da ihr Kader seid, lasst mich euch erzählen, was für ein Leben Zhou Jing und ich führen.« Dabei schaute sie mir direkt in die Augen, als wolle sie ihre Geschichte nur mir erzählen. »Seht mein Gesicht an«, sagte sie unnötigerweise, denn ich konnte ohnehin nicht den Blick von ihr wenden. »Ich bin nicht so geboren worden.« Sie hielt inne, als warte sie auf eine Reaktion von uns. Ihr linkes Auge blinzelte, während das rechte seinen starren Blick beibehielt.
»Als ich in eurem Alter war, bin ich nicht zur Schule gegangen. Ich wäre gern, aber ich konnte nicht. Meine Familie war arm. Mit zwölf Jahren schickte man mich zum Arbeiten in die Fabrik. Während meiner ganzen Jugend arbeitete ich in der Textilfabrik. Ich war eine gute Arbeiterin. Und außerdem ein hübsches Mädchen, wie ihr an meiner linken Gesichtshälfte seht. In der Textilfabrik gab es eine Menge hübscher junger Mädchen, aber es hieß, ich sei die Schönste von allen.
Abends am Ende der Schicht warteten immer Jungs am Tor, um mit uns zu flirten. Es waren viele gut aussehende Burschen hinter mir her.« Als sie das sagte, glitzerte es in ihrem Auge, und ein leises Lächeln huschte über die eine Gesichtshälfte. Bisher hatte sie keine Gefühlsregung gezeigt, aber bei der Erinnerung an ihr früheres Aussehen wurde sie lebhafter.
»Ich bekam mehrere Heiratsanträge. Aber ich dachte immer, es käme noch etwas Besseres. Deshalb wies ich alle ab. Ich wartete auf jemand Besonderen.
Wegen meiner guten Leistung wurde ich bald zur Vorarbeiterin befördert. Ich ging im Betrieb herum und kontrollierte, ob alle ordentlich arbeiteten. Eines Tages blieb eine der großen Maschinen stehen. Mittlerweile kannte ich mich mit den Webmaschinen recht gut aus. Aber wenn es ein Problem gab, dauerte es immer ewig, bis der Mechaniker kam.
Also nahm ich die Sache selbst in die Hand und versuchte herauszufinden, was kaputt war. Plötzlich lief sie wieder an, wie ein wildes Tier, das geweckt worden war. Ich kann mich nur noch dunkel erinnern, was als Nächstes geschah. Eben hatte ich noch in die Maschine geguckt, und im nächsten Moment lag ich im Krankenhaus.
Es hieß, die Maschine sei unerklärlicherweise von selbst wieder angesprungen. Sie erwischte einen meiner langen Zöpfe, zog ihn hinein und riss mir die ganze Kopfhaut ab. Und die Hälfte meiner Gesichtshaut.
Man sagte mir, ich hätte Glück gehabt. Jemand hätte die Maschine abgeschaltet, sonst hätte sie mir den Kopf abgerissen. Oft frage ich mich, ob das nicht besser gewesen wäre.«
Bei diesen Worten ergriff Zhou Jing die Hand ihrer Mutter. Beide begannen zu schluchzen. Dann ließ die Mutter die Hand der Tochter los, wischte sich die Tränen ab und fuhr fort:
»Ich lag sieben Wochen im Krankenhaus. In dieser Zeit hat man mich nie in einen Spiegel sehen lassen. Mein Gesicht war bandagiert, und ich wurde mit einer Sonde ernährt. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam, hoffte aber das Beste. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass es eine so schreckliche Verletzung war. Allerdings sah ich die Mienen der Schwestern und Ärzte, wenn sie den Verband wechselten. Sie ekelten sich vor meinem Anblick.
Dann kam der Tag, als der Verband entfernt wurde und ich mich erstmals selbst anschauen durfte. Eine Schwester gab mir einen Spiegel, und ich sah hinein. Wer ist das?, fragte ich mich. Wer ist das? Ich ließ den Spiegel sinken. Das musste ein Albtraum sein. Nachdem ich einen Moment hatte verstreichen lassen, hielt ich den Spiegel wieder hoch. Ich bewegte die Lippen, um sicherzugehen, dass das Spiegelbild wirklich das meine war. Tatsächlich. Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden. Das schönste Mädchen der Fabrik hatte sich in das hässlichste Mädchen der Welt verwandelt. Ich war zu einem Monster geworden.
Von da an hielten sich die Jungen von mir fern. Es gab niemanden, mit dem ich reden konnte, der sich in meine Nähe wagte oder gar mit mir ausgehen wollte.
Ich könnt euch nicht vorstellen, wie einsam und leer mein Leben geworden war. Meine Freundinnen – die wenigen, die mir danach noch geblieben waren – hatten Angst, ich könnte mich umbringen. Da erzählte mir die Freundin einer Freundin von einem Mann, der an der Anhui-Lehrerhochschule arbeitete. Er sei dort Dozent. Wegen seines familiären Hintergrunds konnte er keine Frau finden und hatte kaum Freunde. Meine Freundinnen meinten: ›Schau, er ist ein netter Mann. Dein Äußeres wird ihn nicht stören. Er
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