Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
sieht deine inneren Werte. Und er möchte dich kennenlernen.‹
Also kaufte ich mir eine Perücke und ein Kopftuch. Ich gab mir alle Mühe, na ja, wie ein Mensch auszusehen. Wie ein Mensch! Ich wappnete mich gegen das, was da kommen mochte.
Man hatte ihn vorgewarnt. Er zeigte sich keineswegs entsetzt. Er war nett, und wir verstanden uns gut. Er konnte mir ins Gesicht sehen – das, was davon noch übrig war – und liebevoll mit mir reden. Als ich ihm meine Lebensgeschichte erzählte, hörte er voller Mitgefühl zu. Und als ich weinte, trocknete er meine Tränen.
Danach verabredeten wir uns zu einem weiteren Treffen. Nachdem wir uns über Monate hinweg immer wieder getroffen und stundenlang miteinander geredet hatten, beschlossen wir zu heiraten. Er schenkte mir etwas, womit ich nicht mehr gerechnet hatte: Glück.
Schon wenige Wochen nach unserer Hochzeit wurde ich schwanger. Aber dann begann der Große Sprung nach vorn, und mein Mann bekam politische Schwierigkeiten. Man bezichtigte ihn des Rechtsabweichlertums. Er wurde abgeholt und eingesperrt. Eine Woche nachdem sie ihn mir weggenommen hatten, kam Zhou Jing zur Welt. Sie hat ihren Vater nie kennengelernt. Im Jahr darauf, 1959 , teilte man mir mit, dass er in einem Lager im Nordosten gestorben sei. Wie er ums Leben gekommen ist, habe ich nie erfahren. Man schickte mir nur einen Zettel, auf dem stand, dass er tot sei.
Er war ein guter Mensch. Doch er hatte kein Glück.«
Gebannt lauschte ich jedem ihrer Worte. Ich musste an das Schicksal meines Vaters und seiner Familie denken. Ob ihr Mann im selben Lager gewesen war wie mein Vater?
Der einzige Unterschied bestand darin, dass Papa überlebt hatte.
Tränen rollten mir über das Gesicht. Xu Yuqing ging es nicht anders. Die Mutter erzählte weiter, ganz emotionslos, als schildere sie das Leben von jemand anderem.
»Es waren die Jahre der Hungersnot. Wir hatten nichts zu essen und auch keine Verwandten, an die wir uns hätten wenden können. Da machte mich eine Freundin mit dem Koch unserer Fabrik bekannt. Er stamme aus einer Arbeiterfamilie und sei ein Roter, sagte sie. Wichtiger war jedoch, dass er uns ernähren konnte.
Er stahl jeden Tag Lebensmittel, die er uns nach der Schicht brachte.
Als er mir einen Heiratsantrag machte, sagte ich sofort Ja. Welche Wahl hatte ich schon? Doch kaum waren wir verheiratet, fing er an, Zhou Jing zu schlagen. Immer wenn er schlechte Laune hatte, ließ er sie an ihr aus. Dabei war sie doch nur ein kleines Mädchen. Ich versuchte, ihn zurückzuhalten, aber dann schlug er mich.
Zhou Jing hat den Verstand ihres Vaters geerbt. Am liebsten würde sie immerzu lesen. Sie ist sehr still und spricht kaum mit anderen Leuten. Sie lebt in ihrer eigenen Welt.
Ihre Liebe gilt den Büchern. Aber sie braucht Geld, um sich Bücher und Kleider zu kaufen. Und wenn sie ihren Stiefvater darum bittet, wird er zornig.«
Bei diesen Worten schluchzte Zhou Jing leise vor sich hin.
»Letztes Jahr ist es noch schlimmer geworden«, fuhr ihre Mutter fort. »Wenn ihm danach ist, begrapscht er ihre Brüste und greift ihr zwischen die Beine. Ich kann nichts dagegen tun, weil mir niemand glaubt. Er ist ein Arbeiter, ich die Witwe eines Rechtsabweichlers. Einmal habe ich mich beim Parteisekretär seiner Arbeitseinheit beschwert. ›Niemand mit seiner Herkunft würde so etwas tun‹, schnauzte er mich an. ›Wenn du weiterhin bösartige Gerüchte über revolutionäre Arbeiter in die Welt setzt, lasse ich dich verhaften.‹
Ihr beide seid im Kommunistischen Jugendverband. Könnt ihr uns helfen? Könnt ihr mir helfen? Könnt ihr meinem Kind helfen?«
Sie senkte den Kopf und begann zu weinen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wir waren vollkommen hilflos. Zhou Jing saß einfach nur da und heulte, den Kopf in die Hände gestützt.
Zhou Jing hatte ein grausames Schicksal zu ertragen. Doch ich konnte nichts daran ändern. Xu Yuqing und ich erhoben uns. Wir bedankten uns bei Zhou Jing und ihrer Mutter, aber sie blickten nicht auf und sagten kein Wort. Draußen setzten wir uns weinend auf eine Bank unter einem Laternenpfahl und versuchten, einander zu trösten.
Während der nächsten Wochen bemühte ich mich, besonders nett zu Zhou Jing zu sein. Ich versuchte, sie aufzumuntern, und schenkte ihr Stifte und Schreibblöcke. Eines Nachmittags schenkte ich ihr meinen geliebten
David Copperfield
. »Dieses Buch hat mir Gesellschaft geleistet, als ich einsam war«, sagte ich. »Vielleicht wird es auch dir
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