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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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würdigen. »Wir haben keine Zeit. Vor uns liegt ein langer Weg, und wenn wir das Dorf nicht bei Tageslicht erreichen, läuft uns vielleicht ein Tiger über den Weg.«
    Ich wartete auf ein Lachen oder einen anderen Hinweis, dass er mir nur Angst einjagen wollte. Doch vergeblich: Er blieb nicht einmal stehen.
    Also rappelte ich mich auf. »Gut«, murmelte ich.
    Ich folgte ihm den gewundenen Pfad hinauf in die Berge. Offensichtlich war er es gewohnt, steile Wege zu gehen, denn er bewegte sich flink vorwärts, und ich hatte große Mühe mitzuhalten. Hin und wieder schaute er zu mir hinunter und spie auf den Boden. »Verdammte, nutzlose Stadtgöre«, schimpfte er. »Warum haben sie ausgerechnet dich hierher geschickt? Was, um alles in der Welt, soll ich mit dir anfangen? Noch ein hungriges Maul mehr zu stopfen.«
    Als die Sonne hinter den Berggipfeln unterging, verblasste das üppige Grün und Blau der Landschaft zu einem matten Kupferton.
    Erschöpft kletterte ich in der dünner werdenden Luft immer weiter hinauf und musste oft eine Pause einlegen, um Atem zu schöpfen. Ich hatte keinen Blick für die großartige Landschaft ringsum. Bei jedem Schritt dachte ich nur, dass er mich weiter vom Rest der Welt, von meinen Freunden, von meiner Familie und von einer glücklicheren Zukunft in der Stadt entfernte. Alles, was mir lieb und teuer war, ließ ich unten im Tal zurück. Nach einem zweistündigen Aufstieg durchquerten wir eine tief hängende Wolke, und als wir aus dem grauen Nieseldunst heraustraten, sah ich das Dorf vor mir. »Wir sind da«, rief Gemeinschaftsleiter Huang mir zu. Dann führte er mich in eine kleine Lehmhütte, wo er meinen Koffer auf den nackten Erdboden fallen ließ.
    »Cuihua, ich hab jemanden für dich«, rief er.
    Eine junge Frau, etwa so alt und so groß wie ich, erschien mit einem Kamm in der Hand. Sie war schlank, hatte eine lange, schmale Nase und musterte mich neugierig. »Ich bin Sun Cuihua, gebildete Jugendliche aus dem Bezirk Jing. Und du?«
    Erleichtert, hier eine Gefährtin zu haben, stellte ich mich vor.
    »Wir haben erst gestern erfahren, dass du kommst«, sagte Huang. »Morgen gehen wir zum Kommunenhauptquartier und besorgen dir ein Bett. Heute schläfst du bei Cuihua.« Damit drehte er sich um und verschwand.
    Ich setzte mich auf meinen Koffer. »Hast du Hunger?«, fragte Cuihua. »Ich kann dir etwas zu essen holen.«
    »Nein, keinen Hunger«, stöhnte ich. »Ich bin todmüde, und mir ist schlecht. Ich muss mich hinlegen.«
    Eine Holzplanke auf vier Beinen diente in dieser Nacht uns beiden als Bett. Ich schlüpfte unter die dünne Decke und quetschte mich an die Wand. Binnen weniger Sekunden schlief ich tief und fest.
    Am nächsten Morgen weckte uns Huang. Er war in Begleitung eines weiteren Mannes aus dem Dorf. »Wir gehen zum Kommunenhauptquartier«, sagte er. »Die Regierung stellt uns für jeden gebildeten Jugendlichen einen Satz Arbeitsgeräte zur Verfügung: eine Sichel, eine Hacke, eine Schaufel und eine Schultertrage. Wir holen die Sachen zusammen mit deinem Bett.«
    »Muss ich mitgehen?«, fragte ich. »Mir tut alles weh, vor allem die Beine und der Rücken. Ich kann kaum laufen.«
    »Bleib ruhig da«, sagte er. »Du würdest uns doch nur aufhalten. Und du brauchst heute auch noch nicht auf dem Feld zu arbeiten.«
    Ich dankte ihm für sein Verständnis.
    Zu meiner großen Überraschung waren die Männer bereits drei Stunden später wieder da. Sie trugen mein Ackergerät und die Bretter für mein Bett.
    »Schau, wen wir auf der Straße aufgelesen haben!«, rief Huang schon von Weitem und deutete den Berg hinunter. Ich kniff die Augen zusammen, um den Pfad besser erkennen zu können. Eine einzelne Gestalt – eine Frau – stapfte zu uns herauf. Sie sah zu uns hoch und winkte. Es war meine Mutter. Ich stürmte ihr entgegen.
    »Wie hast du mich denn gefunden?«, fragte ich atemlos.
    »Nachdem ich aus dem Bus geworfen wurde, habe ich nach einer anderen Transportmöglichkeit gesucht. Aber niemand ist hierher gefahren. Und der öffentliche Bus hätte drei Yuan gekostet. Ich wollte aber umsonst fahren. Schließlich habe ich von der Freundin eines Freundes einer Freundin erfahren, dass sie jemanden bei der Post kennt. Ich bin mit dem Postbus gekommen – sozusagen als Paket. Bei jedem Halt habe ich nach dir gefragt, aber die Leute haben immer nur gesagt: ›Weiter oben in den Bergen, weiter oben in den Bergen.‹« Der Aufstieg hatte sie angestrengt, aber sie war glücklich, mich zu

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