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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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in den Bergen vorbei sein, versicherten wir uns, auch wenn man uns das Gegenteil gesagt hatte. Unsere wahre Zukunft, unser wirkliches Leben erwartete uns jenseits der Berge, in der Stadt. Doch auch wenn wir kein Wort darüber verloren, wussten wir, dass eine Romanze all diese Träume unwiederbringlich zerstören würde. Wir waren uns nahe, wahrten aber zugleich Distanz. Kamen andere hinzu, trennten wir uns und mischten uns unter sie, um keinen Verdacht zu erregen. In Gegenwart von Parteimitgliedern sahen wir uns nicht einmal an.
    Yiping wohnte mit zwei anderen gebildeten Jugendlichen aus Wuhu zusammen. Als wir nach der Ernte einen Tag frei hatten, besuchte ich die drei zusammen mit Cuihua, die schließlich doch zurückgekehrt war. Nach einer gemeinsamen Tasse Tee beschlossen wir, den höchsten Gipfel in der Nähe zu erklimmen. Wir packten gedämpften Reis und eine Thermoskanne Tee ein, und einer der Jungen lieh sich von einem Dorfbewohner ein altes Jagdgewehr. Er meinte, vielleicht würde er ja dort oben einen Vogel schießen, den wir dann gemeinsam verspeisen konnten.
    Der Aufstieg war beschwerlicher, als ich gedacht hatte. Schon nach kurzer Zeit wurde der Weg sehr steil, und an manchen Stellen mussten wir sogar klettern. Zudem machte mir die Höhe Angst, und ich blieb hinter den anderen zurück. Yiping kehrte zu mir um, nahm meine Hand und gab mir Hilfestellung beim Klettern. »Nicht runterschauen«, riet er mir.
    Aber der schmale, steile Pfad lähmte mich. »Ich kann nicht weiter«, sagte ich zu Yiping.
    »Doch, du kannst«, versicherte er mir in aller Ruhe. »Halt dich einfach an meiner Hand fest, und dir wird nichts passieren.«
    Also umklammerte ich fest seine Hand und sah nur ihn an, während wir immer weiter nach oben stiegen. Wir kamen durch eine Nebelwolke, alles um uns herum war wie ausgelöscht. Endlich erreichten wir den Gipfel, wo uns die anderen bereits erwarteten. Die Aussicht war atemberaubend. Wir befanden uns über den Wolken und konnten viele, viele Kilometer weit sehen.
    Es war ein verzaubertes Reich. Auf den niedrigeren Gipfeln um uns herum blühten Blumen, Farbkleckse in Rosa, Gelb und Rot. Unter uns kreisten Vögel, die nichts von den Menschen über sich ahnten. Es gab nur uns fünf auf der Welt. Der Himmel über uns war blau, die großen weißen Wolken sahen von oben wie fremde Kontinente aus. Lange Zeit sprach keiner von uns ein Wort. Schließlich drehte sich Cuihua um und wollte etwas sagen, stockte aber und warf mir einen warnenden Blick zu. Ich merkte, dass ich immer noch Yipings Hand hielt. Sofort ließ ich sie los und entfernte mich ein paar Schritte von ihm.
    Wir legten uns, die Köpfe beieinander, im Kreis auf den Boden und starrten in das unermessliche Blau hinauf. Ich schloss die Augen und atmete die kühle, klare Luft ein. Das einzige Geräusch war das Sausen einer leichten Brise, die über die Felsen strich. Doch plötzlich gab es direkt neben mir einen gewaltigen Knall. Ich fuhr auf, mein Herz raste.
    »Was war das?«, fragte ich.
    Die anderen lachten. Einer der Jungen hatte mit dem Gewehr geschossen.
    »Was bist du denn für ein Angsthase!«, rief Cuihua. »Hast du dir in die Hosen gemacht?«
    Ich errötete. »Ich habe keine Angst. Ich war nur überrascht.«
    »Wenn du keine Angst hast, dann schieß selbst«, sagte einer der Jungen, lud nach und gab mir das Gewehr. Es war schwer, und ich hatte Mühe, den Lauf zu heben. Er zeigte mir, wie ich das Gewehr halten musste und wie man zielte und abdrückte.
    »Da«, er deutete auf einen Vogel unter uns. »Schieß ihn ab.«
    Aber ich war an dem Tag nicht in der Stimmung, ein Tier zu töten. Also zielte ich auf eine Wolke, schloss die Augen und drückte ab. Es gab einen lauten Knall, einen kurzen Lichtblitz und einen gewaltigen Rückstoß. Ich taumelte und fiel hin. Dabei ließ ich das Gewehr fallen und schrie auf, als hätte ich mich selbst getroffen.
    »Na, jedenfalls hast du eine ganze Menge Vögel erschreckt«, lachte ein anderer Junge. »Aber zum Essen haben wir keinen.«
    Dutzende von Vögeln waren bei dem Schuss zwischen den Felsen aufgeflattert, darunter auch ein riesiger Adler, der nun um uns kreiste. Es war ein wunderschöner Anblick, wie er durch die Lüfte glitt, erst aufstieg und dann nach einem Sturzflug auf unsichtbaren Windströmen dahinsegelte.
    Ich machte spontan ein Gedicht und trug es vor:
    Der Adler fliegt über den Berg,
    Die Sonne funkelt wie ein Juwel,
    Wir stehen auf der Spitze der Welt.
    Doch wenn die Sonne

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